Die unterschätzte Droge

Das eine „Gläschen in Ehren” kann beim künftigen Nachwuchs der entscheidende Tropfen sein zwischen Genie und lebenslanger Betreuung. Alkohol ist die meist unterschätzte Komponente bei schwangeren Frauen und ihrem Freizeitverhalten. Wisssenschaftler warnen vor den Folgen selbst kleinster Konzentrationen an Alkohol während der Schwangerschaft.

Ist doch nur ein Gläschen zur Entspannung. Und überhaupt schadet das ja nur in den ersten Monaten. Oder? Laut Bericht der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen kommen jedes Jahr 10.000 Kinder mit einer Fetalen Alkoholspektrumstörung, kurz FASD, zur Welt. Und das allein in Deutschland. Die Dunkelziffer liegt Schätzungen zufolge noch weitaus höher. Damit zählt FASD zu den häufigsten angeborenen Behinderungen. Zum Vergleich: das Down-Syndrom kommt bei 1.200 Neugeborenen pro Jahr vor. Und dennoch können die meisten Menschen hierzulande mit dem Begriff FASD nichts anfangen, wissen kaum etwas über die Folgen von Alkoholkonsum während der Schwangerschaft.

Erstmals wurde der Begriff des Fetalen Alkoholsyndroms 1968 von Paul Lemoine, Leiter der Pädiatrie am Centre Hospitalier Universitaire in Nantes, verwendet. Grundlegend war dabei eine Studie von Lemoine und seinen Kollegen mit 127 Kindern im Alter von 0-16 Jahren, bei der sich zeigte, dass Kinder mit ähnlichen körperlichen Auffälligkeiten (z. B. Minderwuchs, Mikrozephalie, Auffälligkeiten im Gesicht) sowie Schädigungen des zentralen Nervensystems eines gemeinsam hatten: eine alkoholabhängige Mutter. Spätere Forschungen bestätigten diesen Zusammenhang, allerdings ist heute bekannt, dass auch geringe Mengen von Alkohol bereits zu diesen Beeinträchtigungen führen können.

Alkohol ist ein Mitosegift und wirkt als solches direkt auf die Zellteilung. Zellen im zentralen Nervensystem und den Organen können sich also weniger vermehren, feine Strukturen bilden sich nur unzureichend aus. Während der Schwangerschaft gelangt Alkohol dabei über die Plazenta direkt in den Blutkreislauf des ungeborenen Kindes. Da die zur Verarbeitung notwendigen Organe aber noch nicht vollständig ausgebildet sind, wird der Alkohol beim Fötus deutlich langsamer abgebaut als bei der Mutter. Genauer gesagt zehnmal langsamer. Damit hat das Gift zehnmal mehr Zeit, sich schädigend auf den fötalen Organismus auszuwirken. Und das über den gesamten Verlauf der Schwangerschaft. Lediglich in den ersten 1-2 Wochen gilt das sogenannte Alles-oder-Nichts-Prinzip – kommt es in dieser Zeit zu einer Schädigung des Fötus, führt dies zur Fehlgeburt. Im Anschluss an diese Zeitspanne wirkt sich Alkohol dauerhaft negativ auf die Kindesentwicklung aus. Denn auch wenn sich bereits am Anfang wichtige Organe wie das Herz, die Augen und die Extremitäten entwickeln, die empfindlichen Feinstrukturen des Gehirns reifen bis zur Geburt – und sogar noch danach. Daher ist Alkohol nicht nur während der gesamten Schwangerschaftsdauer, sondern auch noch in der Stillzeit, bei der Nahrungsmittel weiter über die Muttermilch aufgenommen werden, schädlich für das Kind.

Je nach Zeitpunkt und Ausmaß des mütterlichen Alkoholkonsums variieren die Auswirkungen. Eine Vielzahl von Bereichen und Funktionen kann betroffen sein – aus diesem Grund handelt es sich bei FASD um eine Spektrumstörung. Neben dem Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) gibt es daher auch weitere Unterformen: das partielle Fetale Alkoholsyndrom (pFAS) sowie pränatal alkoholinduzierte entwicklungsneurologische Störungen (ARND). Wird zu Beginn der Schwangerschaft getrunken, kann es unter anderem zu Herzfehlern oder Leberschäden kommen. Auch Auffälligkeiten im Gesicht können entstehen. So haben die Kinder dann oft verkürzte Augenlidspalten, ein ausgestrichenes Philtrum (Bereich zwischen Nase und Oberlippe) oder eine sehr schmale Oberlippe.

Quelle: Deutscher Alkoholatlas 2017

Alkoholkonsum in späteren Phasen der Schwangerschaft wirkt sich hingegen vor allem auf die Hirnstrukturen aus. Folgen sind zum Beispiel Aufmerksamkeitsdefizite, Verzögerungen in der Sprachentwicklung, eingeschränkte Merkfähigkeit, unzureichende Impulskontrolle, Verhaltensauf- fälligkeiten. Oft fällt es den Betroffenen schwer, Konsequenzen aus Handlungen abzuleiten oder aus Erfahrungen zu lernen. Dies liegt häufig nicht an einer Intelligenzminderung, sondern an hirnorganisch bedingten Einschränkungen der sogenannten Exekutiven Funktionen. Von außen wird ihr Verhalten oft als Faulheit oder fehlende Motivation interpretiert. Doch so sehr sie sich bemühen, sie machen immer und immer wieder die gleichen Fehler und schaffen es dabei nicht, sich an wechselnde Umstände anzupassen. Langzeituntersuchungen zeigen, dass diese Auswirkungen über die gesamte Lebensdauer bestehen. Ein großer Teil der Menschen, die von FASD betroffen sind, schafft keinen Schulabschluss, erlernt keinen Beruf, gerät in Konflikt mit dem Gesetz oder entwickelt selbst Probleme mit dem Konsum von Alkohol oder anderen Drogen. Mehr als zwei Drittel ist sein Leben lang auf Betreuung und Unterstützung im Alltag angewiesen. Und all das nur, weil während der Schwangerschaft nicht auf das Trinken von alkoholischen Getränken verzichtet wurde. Denn so umfassend und andauernd die Auswirkungen von Alkohol auf einen Menschen sind – Fetale Alkoholspektrumstörungen sind zu 100% vermeidbar. (* Die Autorin forscht zu FASD und arbeitet mit Betroffenen) Sandra Ahlert, B. Sc. Psychologie

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