Die Schöne lässt sich nicht erobern
Sonntag, 15. September, am frühen Nachmittag: Von Magdeburg kommend, fahre ich nach Schaprode auf Rügen, kann die Überfahrt zur kleinen Nachbarinsel Hiddensee kaum erwarten. Die weißen Häuser von Neuendorf grüßen aus der Ferne. Der Himmel weint vor Freude über meine Wiederkehr. Als das Stammquartier bezogen ist, die Sachen nicht mehr im Koffer, sondern im Schrank liegen, lugt die Sonne bereits wieder zwischen den Wolken hervor. Nun aber schnell hinaus! Eine steife Brise lässt die Ostsee tosen, endlose Wellenberge mit Gischtkronen ergießen sich an den Strand, bringen Unmengen von Seegras ans Ufer, das hier liegen bleiben darf. Erstes Ziel: der kleine Süderleuchtturm. Frisch gestrichen in Knallrot und Weiß sieht er fast ein bisschen zu neu aus.
Seit 1991 besuche ich fast jedes Jahr dieses „söte Länneken“, habe alle Jahreszeiten erlebt, wortkarge, aber auch sehr herzliche Menschen kennengelernt. Spätestens am zweiten Tag werfe ich den schnellen Alltagsschritt von mir, in Zeitlupe geht es noch einmal so gut voran. Ich lasse mich treiben, doch hier treibt mich nichts und niemand. Der Blick weitet sich, so wie der Horizont. Die Gedanken werden klar. Mein Magen sagt mir, wenn der Körper wieder Energie in Form von Nahrung braucht, dazu bedarf es keiner festgelegten Stunde.
Was aber ist es, das Besondere, das mich und andere Menschen wieder und wieder hierher treibt? Es ist die Ruhe. So gut und tief wie hier schlafe ich zu Hause nie. Wenn nachts nicht gerade ein Sturm ums Haus fegt, höre ich – nichts. Der Nachthimmel ist hier tiefschwarz, sternenübersät. Und es ist das Gefühl, wirklich auf einer Insel zu sein, ich merke dies auf Schritt und Tritt, denn Ostsee oder Bodden oder beide sind (fast) immer im Blick. Aber es ist vor allem diese Vielgestaltigkeit der Landschaft auf kleinstem Raum. Gerade einmal 18,5 Quadratkilometer Platz, davon vier Fünftel unter Naturschutz stehend, für: 13 Kilometer Ostseestrand an der Westküste; eine 4 Kilometer lange und bis zu 60 Meter hohe Steilküste im Inselnorden, dazu das sanfte Hügelland des Dornbuschs mit dem Leuchtturm auf dem Schluckswieck, der mit 72,5 Meter höchsten Erhebung und den Magerrasen ringsumher; in der Inselmitte die Dünenheide die bereits 1964 unter Naturschutz gestellt wurde; im Süden eine sich an den Bodden anschließende offene, savannenartige Graslandschaft, dazwischen Feuchtwiesen mit Tümpeln, Salzvegetation, Wald, Rehe, Füchse, Hasen, Rinder, Schafe und die vier Orte: Neuendorf (unter Denkmalschutz), die „Hauptstadt“ Vitte, das kulturelle Zentrum Kloster und Grieben.
Ist Hiddensee also eine Insel der Glückseligen, mit paradiesischen Zuständen? Nein, dies ist ein Trugschluss. So haben die Neuendorfer seit über 10 Jahren ein handfestes Problem: Der Grund und Boden, auf dem ihre zumeist weißen, reetgedeckten und nicht eingezäunten Häuser auf kleinen Erhöhungen, den Bargen, stehen, ist ihr Eigentum. Die großzügigen Wiesen ringsumher, auf denen die Wäsche im Wind flattert oder Pferde grasen, haben sie gepachtet. Diese Pacht soll laut Landgericht Stralsund um 1230 (!) Prozent steigen, als bestünden die Wiesen aus purem Gold. Man spricht von 80 Euro Pacht pro Quadratmeter und Jahr, Tendenz steigend. Nun fürchten die Neuendorfer, aus ihrer oft seit Generationen bewohnten Heimat vertrieben zu werden, sehen ihre Existenz bedroht, suchen guten Willens nach einem Kompromiss. Politiker unterschiedlicher Couleur geben sich die Klinke in die Hand, noch konnte keiner helfen.
An der Fassade des immer noch unsanierten ehemaligen FDGB-Ostseehotels in Vitte finde ich passend zur Situation diesen Spruch: „Hauptmann oder Ballermann, quo vadis Hiddensee?“ Genau das ist die Frage. Hiddensee als Ort von einmaliger, ursprünglicher Natur, Kunst und Kultur oder Hiddensee mit Riesenhotels, Golfplatz und Großdiscothek – Spekulation, Investition, und am Ende so wie überall an der Ostseeküste?
Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann ist der bekannteste Vertreter von Künstlern, die seit den 1920er Jahren zumeist in der Sommerfrische auf Hiddensee waren, die Insel zu einem bedeutenden Ort der Moderne machten. Hier lebte man abgeschieden und kosmopolitisch zugleich. Laut Hauptmann war diese Insel „das geistigste aller deutschen Seebäder“. Außer ihm kamen Schriftsteller wie Thomas Mann, Mascha Kaléko oder Hans Fallada, der hier seinen Roman „Kleiner Mann – was nun?“ nach einer Schreibhemmung beenden konnte, die Tänzerin Gret Palucca, bildende Künstler wie Käthe Kollwitz, aber auch Wissenschaftler wie Albert Einstein. Der „Hiddensoer Künstlerinnenbund“ entstand um 1920 als Vereinigung von Malerinnen aus ganz Deutschland mit oft jüdischer Herkunft. Besonders Henni Lehmann, Clara Arnheim und Elisabeth Büchsel kämpften aktiv gegen den Vorwurf an, nur „Malweiber“ zu sein. Zentrum ihres Wirkens war die Blaue Scheune in Vitte. Bis 1933, als der Bund zugrunde ging, denn wie der Rest Deutschlands, so sollte auch Hiddensee judenfrei werden.
Paul Oestreicher, im September 1931 in Meiningen/Thür. geboren, emigrierte als Kind mit seiner jüdischen Familie nach Neuseeland, ging später nach Großbritannien. Von 1985 bis 1997 war er Domkapitular und Leiter des Internationalen Versöhnungszentrums der Kathedrale von Coventry. Auf deren Altar steht das originale Nagelkreuz aus drei Zimmermannsnägeln des eingestürzten Dachstuhls als Symbol des Friedens, der Versöhnung und des Neuanfangs, denn am 14./15. November 1940 wurden Coventry und seine Kathedrale von deutschen Bomben in der „Operation Mondscheinsonate“ in Schutt und Asche gelegt. Und genau hier schließt sich ein Kreis zu Magdeburg: Die Zerstörung am 16. Januar 1945 war letztlich auch eine Quittung für den Angriff auf Coventry, denn in Magdeburg wurden wie andernorts Raketen und Kriegsgerät produziert, so bei Krupp und Gruson.
Hiddensees Pastor Manfred Domrös nahm Kontakt zu Paul Oestreicher auf, seit 1999 ist die ev. Kirchengemeinde Hiddensee Mitglied der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft, ein Nagelkreuz aus Coventry ist in der Inselkirche in Kloster zu sehen. Der Politologe und überzeugte Pazifist Dr. Paul Oestreicher fand auf der Insel Freunde, war bis 2017 alljährlich als Kurpastor (Urlauberseelsorger) hier tätig. Und auch jetzt, mit nunmehr 88 Jahren, besucht er weiterhin Hiddensee – als Pensionär.
Von diesem Berührungspunkt zwischen Hiddensee, Coventry und Magdeburg – auch hier gibt es seit 2003 ein Nagelkreuz – erfuhr ich im Juni 2018, als ich wie andere Urlauber und Einheimische zum Jahresrückblick 2017 ins Fischereimuseum „Lütt Partie“ in Neuendorf eingeladen war. Claas Leschner, rühriger Organisator und engagierter Bürger, wenn es um das Wiesenproblem oder andere wichtige Belange für die Insulaner geht, hatte kleinere und größere Ereignisse in Bild und Ton festgehalten, den Film mit Mitstreitern liebevoll aufbereitet: darin ein Interview mit Paul Oestreicher.
Elisabeth Leschner gründete gemeinsam mit ihrem Mann Claas 1988 einen der ersten Fahrradverleihe auf Hiddensee. Heute bietet der Freizeitladen neben „normalen“ Tourenrädern bereits einige E-Modelle, dazu Kinderräder, auch Tandem, Rikscha und Anhänger fürs Kleinkind oder für den Hund sind zu haben. Gedankenverloren erkunde ich „meine“ Insel, zumeist auf Trampelpfaden. Und gerate dabei immer wieder ins Staunen: So liegt auf einer Wiese am Ortseingang von Vitte eine vierköpfige Familie im Gras, blättert in einem Buch, Wortfetzen wie „Blüten“, „Stängel“ dringen zu mir – hier werden Kinder für das Bestimmen von Pflanzen begeistert. Plötzlich kräht eine helle Stimme: „Natternkopf, es ist ein Natternkopf!“ Vor meinem geistigen Auge sehe ich sie nun auch, diese Pflanze mit den blaulila Blüten in der typischen Form. Sie wächst an Wegrändern, nicht nur auf dieser Insel, sondern ebenso in der Großstadt.
Auch habe ich, immer wieder an einer ganz bestimmten Stelle kurz vor Kloster, in der Nähe des Nationalparkhauses, die Worte eines jungen Mannes im Ohr, die er sprach, als er seine kleine Tochter auf den Fahrradsitz hob: „Aber Mäuselchen, das ist doch kein Schnee, das ist Sand.“ Heute soll es per pedes in den Inselsüden gehen, zum Gellen. Dort, wo jetzt der menschliche Zutritt endet, befand sich vor etwa 700 Jahren Hiddensees Südspitze.
Dahinter wächst die Insel Jahr für Jahr um ca. 3 Meter. Von der Steilküste abgebrochenes Material wird sowohl hier als auch im Norden an den beiden Landzungen Neuer und Alter Bessin wieder angelagert. Ein nie abgeschlossener dynamischer Prozess, ständige Bewegung. Die Kernzonen des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft – Gellen und Neuer Bessin – sind für die Natur reserviert. Hier finden viele Vogelarten Brut-, Mauser- und Rastplätze, hier können sie sich in aller Ruhe auf ihren Weg in die Winterquartiere vorbereiten und Kraft tanken.
Meine Gedanken schweifen ab: Im April 2017 hatte ich auf meiner Wanderung durch den schmalen Küstenschutzwald gen Süden eine einprägsame Begegnung. Zuerst lief etwas quer über den Waldweg, zu groß für einen Hasen, doch für ein Reh zu klein und gedrungen. Die Streifen waren im Schatten nicht zu erkennen. Als ich weiterging, war mir im Nachhinein sofort klar, was da eben meinen Weg gekreuzt hatte: Denn schräg links vor mir, etwa 20 Meter entfernt, stand, mir die Breitseite zuwendend, eine Wildsau! Ich blieb wie angewurzelt stehen, machte dann auf dem Absatz kehrt und stellte bis zum nächsten Strandübergang zumindest gefühlt einen Weltrekord im Schnell-und-leise-Gehen auf. Mein Herz schlug mir bis zum Halse, der Schweiß brach mir aus allen Poren. Dabei – so dachte ich später, als ich wieder bei Sinnen war – konnte mich die Bache gar nicht „orten“, denn ich kam aus Norden, der Wind hingegen aus Südwest.
Tatsächlich sind die Wildschweine eine Landplage auf Hiddensee. Sie schwimmen von Rügen über den Bodden, und sie vermehren sich prächtig, so einige Rotten gibt es derzeit. Die Tiere rennen nachts durch Wald und Flur, verschonen dabei auch die Ortschaften nicht. Sie wühlen alles auf, was ihnen vor die Schnauzen kommt. Deshalb befestigt man seit geraumer Zeit auch die Deiche und Dämme mit Rasengittersteinen, um sie vor den tierischen Angriffen zu schützen, denn es handelt sich hierbei schließlich um Anlagen zum Küsten- und Hochwasserschutz.
Regelmäßig, vor allem im Herbst, finden Treibjagden statt. Doch die Zahl der erlegten Tiere, besonders die jungen Bachen stehen hier im Fokus, hält sich in sehr engen Grenzen. Denn die Tiere sind intelligent (Erinnert sich noch jemand an „Wildschwein ehrenhalber“ Heinz Meynhardt?), ziehen sich tagsüber an das Boddenufer zurück, schlafen unsichtbar im Schilfgürtel. Von wegen dumme Sau!
Es geht auch anders: Seit dem Jahr 2004 ist jeweils von April bis Oktober Wanderschäfer Falk Majewski mit seiner Herde aus ca. 400 Rauhwolligen Pommerschen Landschafen, der auch einige Ziegen angehören, auf der Insel unterwegs. Gemeinsam mit seinen beiden Hunden dirigiert er die Herde, kann so die Beweidungsintensität ganz nach Bedarf steuern. Denn ohne diese sanften Eingriffe wäre z.B. die Kulturlandschaft Dünenheide nicht zu erhalten, sie würde in wenigen Jahren verbuschen und ein Birken-Kiefern-Wald wüchse heran.
Eine Kombination von Radeln und Wandern bringt mich kreuz und quer über Hiddensee, auch jenseits der Hauptpfade. Unter einer Kiefer umschwirrt mich eine Vielzahl von Goldhähnchen, auf einer Deichwiese beobachte ich eine halbe Ewigkeit einen Kiebitz. Und wenn ich tagsüber von einem der Hügel im Norden den süchtig machenden Blick über „meine“ Insel genossen habe – wie sie sich anmutig zwischen Bodden und Ostsee schmiegt –, so verbringe ich die späten Stunden des Nachmittags und Abends lieber im stillen Süden, in den es nur wenige Tagestouristen schaffen. Sie halten sich zumeist in Vitte und Kloster auf, wollen den Leuchtturm besuchen, von dessen Aussichtsplattform sich ein fantastischer Rundblick bietet, bei klarer Sicht bis zu den Kreidefelsen der 54 km entfernten dänischen Insel Møn. Manch einer von ihnen mag wohl nicht so recht wissen, auf welcher Insel er sich gerade befindet. Reisebüros bieten neuerdings „Inselhüpfen“ an: Darß, Hiddensee, Rügen und Usedom innerhalb weniger Tage, da kann man schon einmal durcheinandergeraten. Aber der Zauber Hiddensees erschließt sich ohnehin nicht dem flüchtigen Besucher. Die Schöne möchte nicht erobert werden. Doch wenn man mit Zeit und Muße sie ganz sachte auf sich zukommen lässt, kann daraus eine oft jahrzehntelange innige Beziehung wachsen.
Freitag, 27. September, morgens: Der Himmel über Hiddensee öffnet seine Schleusen, macht mir den Abschied so etwas leichter. Gut erholt kehre ich zurück in die laute Großstadt, brauche ein paar Tage zum Eingewöhnen – schiele schon nach dem Kalender fürs nächste Jahr. Im April ist es wieder so weit: Ich stehe auf dem Oberdeck der Fähre von Schaprode nach Hiddensee, den Blick sehnsuchtsvoll auf die weißen Häuser von Neuendorf gerichtet … Birgit Fritzsche