Der ohnmächtige Patient

Wer erkrankt, hofft auf Genesung. Überhaupt scheint die Erwartung, gesund zu bleiben oder eben im Krankheitsfalle schnell medizinische Hilfe zu erhalten, permanent zu wachsen. Natürlich nähren die Fortschritte in der Wissenschaft solche Erwartungshaltungen in gewisser Weise auch zu recht. Überfliegt man Veröffentlichungen über neueste Erkenntnisse, Mittel und Methoden, entsteht schnell eine Überzeugung dazu, dass die Überwindung schrecklichster Krankheiten kurz vor dem Durchbruch stünde. Die Errungenschaften der Medzin sind verglichen mit einer Zeit vor 100 Jahren erstaunlich. Organtransplantationen, künstliche Gelenke, neurochirurgische Operationen, Hormontherapien und moderne Medikationen können heute Heilung und Linderung schaffen, von denen Menschen Anfang des vergangenen Jahrhunderts noch nicht einmal zu träumen wagten.

Trotz all dieser Möglichkeiten gräbt sich das eigene Schicksal, der sehnsüchtigste Wunsch, möglichst schnell eine krankhafte Beeinträchtigung loszuwerden, tief in die Seele ein. Das malade Individuum trifft dann auf ein hochkomplexes Gesundheitssystem, das dennoch von menschlichen Akteuren am Laufen gehalten wird. Galten Ärzte über viele Jahrzehnte noch als „Götter in Weiß“, denen man mit Demut begegnete, treten ihnen heute selbstbewusste und fordernde Patienten entgegen. Modernste Apparate- und Labordiagnostik können vielfältige Ursachen im Körper sichtbar machen. Was da ist, soll genutzt werden. Und weil die Chipkarte der Krankenkasse ein stets gedeckter Scheck ist, würde kaum jemand dafür Verständnis entwickeln, wenn nicht tatsächlich die letzte Möglichkeit fürs Aufspüren einer Krankheitsursache ausgenutzt worden wäre. Andererseits hört man vielfach Klagen über notleidende Notambulanzen, viel zu lange Wartezeiten bei Fachärzten und für MRT-Diagnostiktermine. Ein Vorwurf gegenüber Kliniken lautet dann wiederum, dass viel zu schnell und oft operiert würde, nur damit ein Krankenhaus betriebswirtschaftlich gut dastünde. Sind erstmal teure Geräte angeschafft, müssten sie sich zügig amortisieren.

Es wird wohl niemals ein Gleichgewicht zwischen medizinischen Angeboten und Möglichkeiten sowie der Unberechenbarkeit, wann wie viele Menschen von welcher Krankheit betroffen sind, herstellbar sein. Aber im gesellschaftlichen Bewusstsein wird dies dem „Gesundheitssystem“ abverlangt. Systemische Funktionalität und irrationales individuelles Schicksal sind nun einmal nicht in Deckungsgleichheit zu bringen. Es mag ja wichtig und richtig sein, dass in zahlreichen TV-Talkshows die Gesundheitspolitik am Pranger steht, Missstände und Defizite benannt und diskutiert werden. Doch dreht der Gesetzgeber dann an einer Stellschraube, hat mancher Versorgungsanspruch längst neue Erwartungsgipfel erklommen.

Dass Patienten heute zuerst die Notaufnahmen von Krankenhäusern aufsuchen und nicht den Hausarzt, liegt nicht allein daran, dass es zu wenige niedergelassene Allgemeinmediziner gibt, sondern eher an den Möglichkeiten, die ein Krankenhaus mit ihren vielen klinischen Bereichen bietet. Sitzt man dann stundenlang in der Wartezone einer Notaufnahme, ist für den langen Aufenthalt natürlich die Ambulanz verantwortlich. Dass aber jeder, der am selben Tag mit seinem Anliegen dort sitzt auf begrenzte Versorgungsressourcen trifft, wird meistens ausgeblendet. Die Abläufe im Hintergrund, die Ungewissheit beim Warten erzeugt bei Patienten Ohnmachtsgefühle. Man kommt sich selbst wie dem Schicksal ausgeliefert vor. Weder ist man Motor für den Ablauf noch für den Lauf der Diagnose. Nimmt man einen außenstehenden Betrachterstandpunkt ein, ist es eher das medizinische Personal, dass der Summe aller Patienten-Erwartungen ohnmächtig gegenübersteht.

Beide Seiten sehen sich am Ende in einem Zeitdilemma. Patienten erleben einen Mangel an Aufmerksamkeit und Zuwendung. Ärzte und Pflegemitarbeiter können genau das kaum noch leisten. Wir können von allem mehr fordern, müssten aber gleichzeitig bereit sein, mehr zu bezahlen. In der Folge würde manche Versorgungserwartung weiter wachsen. Es ist mitnichten das Gesundheitssystem allein krank, zuerst sind es Menschen, die Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.      Thomas Wischnewski

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