Auf anderen Wegen

Es kommt durchaus vor, dass Michael Rother von netten, älteren Damen auf der Straße angequatscht, mit einem freundlichen Lächeln bedacht und schließlich noch in die Wange gekniffen wird. So, wie man das bei niedlichen Babys macht, wenn sie im Kinderwagen liegen oder an der Hand eines Elternteils durch die Gegend tapsen. Erst vor Kurzem ist ihm das auf dem Ulrichplatz in Magdeburg passiert. Aber der gebürtige Wernigeröder ist kein Baby mehr – er ist 32 Jahre alt. Dass er im Rollstuhl sitzt, scheint dennoch manche „Omis“ dazu zu verleiten, ihn so zu behandeln, als wäre er noch ein kleines Kind. „Viele Menschen denken, dass ich auch geistig zurückgeblieben bin, eben weil ich im Rollstuhl sitze“, sagt er. Eine gewaltige Fehleinschätzung, denn Michael Rother hat ein Studium an der Otto-von-Guericke-Universität abgeschlossen, war dort mehrere Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für angewandte Mathematik tätig und arbeitet derzeit an diversen Hochschulen. Aktuell beschäftigt er sich mit einem Softwareprojekt im Bereich Web-Security.

„Das hätte früher wahrscheinlich niemand gedacht“, erzählt er und lächelt dabei ein wenig verlegen. Im Alter von zwei Jahren diagnostizierten die Ärzte bei ihm Spinale Muskelatrophie, Typ I – eine Form von Muskelschwund. Lebenserwartung: sieben Jahre. „Daran habe ich mich nicht gehalten, wie man heute sieht“, sagt der 32-Jährige scherzend. Seine Kindheit beschreibt er selbst als normal. „Ich habe zunächst eine Schule für Körperbehinderte besucht, bin dort aber relativ regelmäßig eingeschlafen.“ Nicht aufgrund der Erkrankung, sondern weil er sich im Unterricht langweilte. „Also überlegte ich zusammen mit meinen Eltern, ob es nicht besser für mich wäre, ein Gymnasium zu besuchen.“ In der 10. Klasse wechselte er schließlich die Schule – ein wichtiges Kriterium dabei: Barrierefreiheit. „Bis zum Alter von 14 Jahren konnte ich noch stehen, danach hat mein Körper immer mehr abgebaut. Ohne Rollstuhl ging nichts mehr.“

Davon ließ sich Michael Rother allerdings nicht beirren. „Natürlich ist die Erkrankung mein ständiger Begleiter. Und sie tritt vor allem dann in den Vordergrund, wenn ich einen schlechten Tag habe. Ansonsten versuche ich mich auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren und setze mir gewisse Ziele.“ Das erste Ziel nach dem Abitur war, an der Hochschule Harz zu studieren. Wirtschaftsinformatik. Schwierig sei es im ersten Jahr gewesen, vor allem, weil er sein gewohntes Umfeld zu Hause verlassen musste. „Das Studium selbst war ganz ok. Nur in Mathe bin ich durchgefallen – nicht, weil ich schlecht darin war, sondern weil ich oft meinen eigenen Weg gesucht habe.“ Dass Michael Rother Ahnung von Mathematik hat, zeigte sich darin, dass er seinen Kommilitonen Nachhilfe gab. „Deshalb bekam ich auch die Empfehlung Mathematik zu studieren und bin nach Magdeburg an die Otto-von-Guericke-Universität gewechselt.“ Zudem wählte er noch Physik und wurde nach dem Abschluss des Studiums als wissenschaftlicher Mitarbeiter angestellt.

Mit ernster Miene fährt er mit seinen Schilderungen fort: „Momentan beschäftige ich mich mit dem Thema Web-Sicherheit. Aber wer weiß, wie es weitergeht.“ Diese Äußerung ist nicht nur auf das berufliche Leben des 32-Jährigen gemünzt, sondern vor allem auf seine körperliche Verfassung. Dies soll nicht im Mittelpunkt stehen, aber ausblenden kann er es eben auch nicht. „Momentan fühle ich mich gut. Mit meinem Rollstuhl kann ich mich im Rahmen meiner Möglichkeiten bewegen und meine Assistenten helfen mir rund um die Uhr. Aber es ist ungewiss, wie lange dieser Zustand noch anhält oder wann sich meine Situation verschlechtert.“

Ganz nüchtern redet der 32-Jährige über die Erkrankung. Mit seinem Schicksal hat er sich längst abgefunden. „Ich kann daran nichts ändern, also muss ich das Beste daraus machen. Es wäre nur schön, wenn andere Menschen mich nicht auf einen Rollstuhlfahrer reduzieren würden. Im Alltag spürt man die Diskrepanz ganz deutlich … die Barrieren in den Köpfen.“ Ob beim Amt, wo stets die jeweiligen Assistenten, die ihn begleiten, angesprochen werden, um seine Belange zu klären oder bei zufälligen Begegnungen auf der Straße, wo die Leute ihn verstohlen anschauen, statt mit ihm zu reden. Negativ beeinflussen lässt er sich davon jedoch nicht – zumindest an den guten Tagen. Bewusst setzt sich der Mathematiker Ziele, die er erreichen möchte, solange ihm das noch möglich ist. Michael Rothers derzeit ambitioniertestes Projekt: „Ich möchte unbedingt Nordamerika bereisen. Nicht nur für ein paar Tage Urlaub machen – dafür lohnt sich der ganze Aufwand schließlich nicht – sondern mehrere Monate von Küste zu Küste reisen.“

Seit Längerem befasse er sich bereits mit diesem Gedanken. „Immer wieder geistern solche Ideenfragmente durch meinen Kopf, verfliegen dann aber wieder. Da sich meine Situation jedoch nicht verbessern wird – ganz im Gegenteil, darf ich nicht mehr lange warten, um diese Idee umzusetzen.“ Akribisch plant er seit dem Sommer sein Projekt „Immobil im Mobil – mein steiniger Weg durch Amerika”. Der Aufwand, den Michael Rother angesprochen hat, ist vor allem ein logistischer. Nach Kanada zu fliegen, sollte kein Problem darstellen. Jedoch muss er sich vor Ort irgendwie fortbewegen können. Daher möchte er sein eigenes Auto, das per Joystick steuerbar ist, nach Übersee bringen lassen. „Ein behindertengerechtes Auto für mehrere Monate zu mieten, wäre viel zu teuer – etwa 200 Euro pro Tag“, erzählt der 32-Jährige. „Die Verschiffung meines Autos zu organisieren, ist jedoch auch nicht mit einem Anruf getan.“

Die Strecke, die er zurücklegen möchte, muss der Mathematiker ebenfalls genau planen. Ob von West nach Ost oder umgekehrt. Zudem ist aus der ersten Idee eine umfangreichere Tour entstanden. „Wenn ich schon in Nordamerika bin, würde ich auch gern die Westküste der USA sehen – also wäre es sinnvoll von Los Angeles Richtung Norden nach Vancouver und von dort Richtung Osten nach Montreal zu fahren.“ In 30 Städten – beziehungsweise Städtchen – hat er mithilfe seines Teams bereits jeweils drei Unterkünfte herausgesucht, die barrierefrei ausgebaut sind. Vor allem in den kleineren Orten fernab der Metropolen kein einfaches Unterfangen. Etwa zehn Personen sind derzeit mit den Planungen beschäftigt. „Jeder hat ein bestimmtes Gebiet auf dem er oder sie sich auskennt. Man muss sich mit vielen Fragestellungen beschäftigen, ob es um das Thema Versicherung geht, Marketing, Sozialrecht oder Arbeitsrecht.“

Drei Assistenten, auf deren Hilfe er Tag und Nacht angewiesen ist, werden ihn begleiten. „Für sie soll sich der Aufwand auch lohnen … es soll nicht nur um Arbeit, sondern auch um schöne Erlebnisse während der Reise gehen.“ Work & Travel ist das Stichwort, das Michael Rother dabei erwähnt – wegen der Kosten. „Dass das nicht billig wird, war mir von Anfang an klar. Jedoch habe ich in der Anfangsphase das Thema Finanzen bewusst aus meinen Gedanken verbannt, sonst hätte ich mich vermutlich nie in die Planung gestürzt.“ Crowdfunding über die Plattform „Kickstarter“ ist eine Möglichkeit, die der Mathematiker in Erwägung zieht, um sich finanzielle Unterstützung zu sichern. Die andere ist das Sponsoring über seine Website followmichaelswheels.com, dafür soll bis zum Jahresende die Internetseite noch erweitert werden.

Im April 2018 soll es schließlich losgehen. Etwa ein halbes Jahr entlang der Westküste der USA und durch Kanada. Der Grund, warum der 32-Jährige diese Strapazen auf sich nimmt, ist nicht nur die Erfüllung eines lange gehegten Wunsches. Er möchte damit auch anderen Menschen Mut machen. „Ich möchte zeigen, was man alles erreichen kann, wenn man wirklich möchte. Eine Krankheit oder Behinderung ist kein Grund, auf gewisse Dinge zu verzichten. Man muss nur geeignete Wege finden – wenn es so nicht geht, dann geht es vielleicht anders. Und dabei braucht es Menschen, auf die man zählen kann, denen man vertrauen kann. Denn oftmals geht es nur gemeinsam.“ Tina Heinz

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