Anna-Maria Meussling: Heilerin der Kunst

Viel habe sie derzeit nicht zu tun. Anna-Maria Meussling führt durch ihre Werkstatt und zeigt auf einen verwais-ten Tisch, über dem eine große Lampe schwebt. Hier hat die heute 75-Jährige viel Zeit damit verbracht, Altäre und Skulpturen zu restaurieren. Ein Jahr oder noch mehr für ein Exemplar – je nach Größe und Restaurierungsbedarf des Kunstwerkes. An einer Wand sind zahlreiche Fotografien zu sehen, die davon zeugen, welche Arbeiten Anna-Maria Meussling im Laufe ihres Lebens vollendet hat. Eine andere Wand ist mit Weisheiten und diversen Bildern gesäumt. Kunst ist in ihrem Haus, dem ehemaligen Pfarrhaus neben der St.-Maria-Magdalena-Kirche in Plötzky, das sie mit ihrem Ehemann Rüdiger Meussling bewohnt, allgegenwärtig. In der Wohnstube zieren zahlreiche Gemälde die Wände und auch in einer Ecke ihrer Werkstatt steht auf einer Staffelei ein Ölbild – allerdings ohne Rahmen.

Die gebürtige Thüringerin nimmt das Gemälde und legt es auf ihren Arbeitstisch, der sich – wie inzwischen bei den meisten Berufen – den Raum mit einem Schreibtisch samt Computer teilen muss. „Hier wurde das Bild beschädigt“, sagt Anna-Maria und zeigt auf einen Riss, den sie inzwischen geheilt, oder etwas sachlicher ausgedrückt, repariert hat. „Wenn ich noch die Farbe auftrage, wird man den Schaden anschließend nicht mehr erkennen.“ Die 75-Jährige weiß, wovon sie spricht. Viel Erfahrung hat sie gesammelt, seitdem sie nach dem Abitur in Gotha eine dreijährige Ausbildung zur Restauratorin für gefasste Skulpturen und Altäre in den Kirchlichen Werkstätten Erfurt abgeschlossen hat. Dort lernte sie auch ihren Mann kennen – wie ihr Vater ebenfalls ein Pfarrer. Die beiden heirateten 1963 und zogen gemeinsam drei Kinder groß, zwei Töchter und einen Sohn.

Noch in den 1960er Jahren verließ die Familie Thüringen und zog nach Baben bei Stendal. „Mein Mann hatte dort als Prediger vier Orte zu versorgen“, sagt Anna-Maria Meussling. „Sehr gut ging es uns damals nicht … als Pfarrer hat man zu DDR-Zeiten nicht viel verdient und auch die Arbeit als Restauratorin wurde kaum gewürdigt.“ Die 75-Jährige schildert die Erinnerungen ganz nüchtern. Beklagen möchte sie sich nicht. „Das einzige, was mir wirklich fehlte, war die Möglichkeit, zu Hause arbeiten zu können, damit ich für meine Kinder da sein kann.“ Die Gelegenheit dafür sollte sich jedoch nach 1973 ergeben, als die Familie nach Plötzky zog. „Hier hatten wir mehr Platz zur Verfügung, sodass mein Mann, der gelernter Buchbinder ist, sich im Ruhestand eine Werkstatt einrichten konnte und ich ebenfalls einen separaten Raum für meine Restaurierungswerkstatt hatte.“

Seitdem bemühte sich Anna-Maria Meussling stets darum, sich die Arbeit nach Hause zu holen. Meist funktionierte das auch bis auf wenige Ausnahmen. Eine davon: Zwischen 1973 und 1977 legte sie ehrenamtlich romanische Wandmalereien in der St.-Thomas-Kirche in Pretzien frei. Insgesamt 94 Quadratmeter musste sie dabei sichern. „Jeden Tag bin ich mit dem Fahrrad nach Pretzien gefahren und habe an den Wandmalereien gearbeitet, während die Kinder in der Schule waren.“ Gedankt wurde ihr das nicht. Doch die Leidenschaft, Kunstwerke zu heilen und für die nächsten Generationen zu sichern, war stets größer als das Verlangen nach Anerkennung. „Das ‚Problem‘ bei diesem Beruf ist auch, dass man nach der Fertigstellung das Werk des Restaurators nicht erkennen kann, wenn er seine Arbeit richtig gemacht hat … es ist eine Selbstverständlichkeit.“

Seit dem Umzug nach Plötzky hat die 75-Jährige zahlreiche Altäre, Skulpturen, Tafelbilder und Gemälde restauriert und konserviert. Darunter mehrere Cranach-Altäre, wie das Retabel der Kirche Stresow bei Burg oder den gotischen Flügelaltar der Kirche in Kade bei Genthin. Auch der Flügelaltar in Niederglaucha bei Eilenburg, mehrere Gemälde für das Schloss Wörlitz und Oranienbaum, zwei Großgemälde für die Schlosskirche in Ballenstedt, gotische Altäre in Isterbies, Goltewitz, Rosian, Wallwitz, für die St.-Sebastian-Kirche in Magdeburg sowie für das Museum Aschersleben und eine russische Ikone für das Kloster Hegge bei Paderborn zählen zu den von Anna-Maria Meussling konservierten Werken. Bei der Restaurierung mehrerer Kirchen (Plötzky, Pretzien, Nedlitz, Ranies, Pechau, Zeddenick, Magdeburg-Ottersleben und Calenberge) hat sie ebenfalls mitgewirkt. Und die Liste ließe sich noch lange so weiterführen.

 

Die erste bedeutende offizielle Würdigung erhielt die Restauratorin im Jahr 1993, als ihr vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker das Bundesverdienstkreuz am Bande überreicht wurde. 2012 schließlich eine weitere Auszeichnung: das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, verliehen von Bundespräsident Joachim Gauck, dessen Konterfei ebenfalls an einer Wand in ihrer Werkstatt zu sehen ist. Anna-Maria Meussling ist stolz auf das, was sie bislang erreicht hat. Und wenn sie beim Betreten ihrer Werkstatt sagt, sie habe derzeit nicht viel zu tun, dann klingt das sehr bescheiden. Denn ihr Engagement ist vielseitig. Nach 1963 hat sie stets ehrenamtlich in den evangelischen Gemeinden ihres Mannes geholfen. Und seit Rüdiger Meussling 1999 in den Ruhestand gegangen ist, hat diese Hingabe nicht nachgelassen.

Von 1997 bis 2010 war sie als Kunstbeauftragte des Kirchenkreises Elbe-Fläming tätig. Auch auf politischer Ebene engagiert sie sich. Und nebenbei recherchiert sie, um Historisches und Geschichten, die nicht vergessen werden sollen, in Büchern festzuhalten. Bereits vier Bücher sind im Eigenverlag erschienen, an einem fünften arbeitet sie derzeit. „Dabei kommt mir natürlich zugute, dass mein Mann Buchbinder ist“, sagt die 75-Jährige und lächelt, während Rüdiger Meussling geduldig nickt. Auch er hat – wie das bei Rentnern im Allgemeinen so ist – wenig Zeit. 55 Jahre ist er inzwischen als Pfarrer tätig – ebenso lang wie er mit seiner Frau verheiratet ist. Viel Engagement haben die beiden in die Kirche und die Gemeinde in Plötzky investiert und tun dies noch immer. Rüdiger wird an Heiligabend ehrenamtlich den Gottesdienst halten, Anna-Maria bereitet für die Weihnachtszeit das Krippenspiel mit Kindern vor. Gut, dass die beiden nicht so viel zu tun haben … Tina Heinz

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