Tanz mit dem Tod
Bis zum 17. April ist eine beachtenswerte Ausstellung mit Holzschnitten des in Quedlinburg lebenden Malers und Grafikers Siegfried Wagner im Magdeburger Dom zu sehen. Der Künstler setzt sich in den gezeigten Werken mit der Endlichkeit des Lebens auseinander.
Der Holzschnitt ist ja eine sehr alte Kunstform. Bereits im Altertum wurden in Babylon, Ägypten und China Holzstempel verwendet. Als bildnerische Kunstform könnte man für den Holzschnitt vor allem zwei Zentren ansehen, Japan und Mitteleuropa. Die japanische Art des Holzschneidens hat sich über Jahrhunderte bis in unsere Zeit erhalten und hat eine sehr malerische Ausdrucksweise. Als Beispiel seien die 36 Ansichten des Berges Fuji von Hokusai erwähnt. „Die Welle“ aus diesem Zyklus kennen sicher viele. Landschaften, familiäre Szenen bestimmen die Themen dieser japanischen Farbholzschnittkultur. Sie unterscheidet sich sehr von den mitteleuropäischen Holzschnitten, sowohl thematisch als auch stilistisch.
Die erste große Verbreitung in Europa fand im Mittelalter statt. Sehr häufig hatten die Holz-schnitte gesellschaftlichen, ja sogar politischen Inhalt, als wären sie förmlich aus der Not heraus geboren. Um 1400 herum druckte man vor allem die sogenannten Pestblätter. 1498 schuf Albrecht Dürer seinen 15 Holzschnitte umfassenden Zyklus über die Offenbarung des Johannes, zu denen auch der bekannte Druck mit den apokalyptischen Reitern gehört. Zur Zeit der Reformation und auch der Bauernkriege wurden Holzschnitte in großer Zahl als Flugblätter verwendet, oft mit satirischen Darstellungen. Ebenso zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges.
Danach wurde es etwas stiller um die Holzschnitte. Kupferstiche bestimmten die Szene und später vor allem die 1798 von Senefelder erfundene Lithographie, im 19. Jahrhundert die einzige Druckmethode, die Farbdrucke in großen Auflagen produzieren konnte. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam der Holzschnitt durch den Expressionismus zu einer neuen Blüte. Diese Drucke waren weniger fein ausgebildet als vor Jahrhunderten. Sie kontrastierten kräftig und expressiv mit schwarzen und weißen Flächen. Sie sprangen im wahrsten Sinne des Wortes ins Auge des Betrachters. Um nur einige Namen zu nennen: Heckel, Pechstein, Kirchner, Nolde und viele andere mehr. Aber auch Käthe Kollwitz wäre zu nennen und der Niederländer Franz Masareel, der Bildgeschichten ohne Text aus Holzschnitten herausgab. Die Hefte der seit 1911 erscheinenden politischen und künstlerischen Wochenzeitschrift „Die Aktion“, die den Expressionismus sehr unterstützte, sind voll von Holzschnitten namhafter Künstler. Aus unserer Gegend war es vor allem Katharina Heise aus Schönebeck-Salzelmen, damals wohnhaft in Berlin, die hervorragende Holzschnitte schuf und auch in der Aktion reichlich vertreten war. „Die Aktion“ widmete ihr sogar ein ganzes Heft! Über Katharina Heise können wir die Brücke zu Siegfried Wagner schlagen. Denn auch er gehörte zu den jungen Leuten, die das große Glück hatten, Katharina Heise noch in ihren letzten 2-3 Lebensjahren besuchen zu können und die ihr Werk bewunderten, bis sie 1964 leider verstarb. Vielleicht entstand dort seine Liebe zum Holzschnitt. Expressiv sind sein Holzschnitte auf jeden Fall.
Siegfried Wagner war damals Student an der Magdeburger Fachschule für angewandte Kunst und gehörte zu dem letzten Jahrgang, bevor diese Fachschule mit langer Tradition leider geschlossen wurde. Magdeburg wurde seine Stadt, auch wenn er zeitweilig seinen Wohnsitz in Calvörde hatte und jetzt in Quedlinburg lebt und arbeitet. Eigentlich stammt der 1941 geborene Siegfried Wagner aus Waldenburg in Schlesien und in manchen Gesprächen spürt man, dass sein Herz für immer in dieser alten Heimat verwurzelt ist. Nach der Vertreibung 1947 aus Schlesien verschlug es seine Familie in die Saalfelder Gegend. Nach der Schulzeit lernte er im Porzellanwerk Triptis den Beruf des Porzellan- oder Kerammalers. Bald nach der Lehre wurde er zum Studium nach Magdeburg an die Kunstfachschule delegiert. Offen und zugewandt hatte er doch immer seinen Kopf für sich, manchmal eigenbrötlerisch und eigenwillig gingen seine Gedanken immer eigene Wege, sein unabhängiges Denken war und ist ihm stets wichtiger als ein sicherer Broterwerb. Als idealistischer Jugendlicher trat er zwar in die SED ein, brach aber 1964 wieder mit der Staatspartei. Dadurch war ihm mancher Weg verbaut, vor allem der, als freischaffender Künstler arbeiten zu können und davon leben zu können. Er arbeitete als Transportarbeiter, Rangierer, Plakatmaler und später auch als Messegrafiker in Leipzig und Rostock. Eine Zulassung zum Verband der Bildenden Künstler stand in den Sternen. Doch eine Anstellung beim Kunsthandel als Restaurator ermöglichte ihm von 1974-77 ein externes Studium der Grafik an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, sodass er 1977 endlich in den Künstlerverband aufgenommen werden konnte und nun auch für die Öffentlichkeit und den Staat als freischaffender Maler und Grafiker legitimiert war. Nach dem Zusammenbruch der DDR scheiterte ein Versuch, mit anderen Kollegen die Kunstfachschule wieder zu neuem Leben zu erwecken. Neben einer zeitweiligen Anstellung als Kunsttherapeut bei der Caritas in Halberstadt widmete er sich ganz seiner künstlerischen Arbeit, deren letzte Schöpfung dieser im Dom gezeigte Totentanz ist.
Während er in den Anfangsjahren seiner künstlerischen Tätigkeit viele Gemälde schuf, wandte er sich seit vielen Jahren von der Malerei ab und dem Holzschnitt zu. Die Idylle und die einfache Schönheit waren und sind weder in seiner Malerei noch in den Holzschnitten maßgeblich vertreten. Schon in den frühen Werken zeigte sich oft Trauer, Aggression und Schmerz. So auch in den späteren Jahren. Wagners Stil im Holzschnitt ist anders als der vieler anderer. Man könnte sagen, dass er dynamischer als bei anderen Holzschneidern ist, weniger statisch. Man spürt den Moment der Bewegung der Figuren. Fast so, als wäre bei einer Foto-grafie die Belichtungszeit ein ganz wenig zu lang gewesen und die geringfügige Unschärfe des Abgebildeten zeigt, dass er in diesem Moment in Bewegung war.
Überwiegend sind es ernste Themen, wie zum Beispiel Bedrohung, Tod oder sich wehren müssen. Untergründig wurzelt sein Werk vermutlich im eigenen Erleben von Flucht, Bedrohung, Vertreibung, Verlust geliebter Menschen und auch eigener schwerer Erkrankungen. Doch darüber könnte er nur selbst befinden und Auskunft geben. Seine Werke stimmen selten fröhlich, sondern sie regen zum Nachdenken und zu Selbstreflexionen an. Gerade das macht außer dem künstlerischen auch ihren hohen ideellen Wert aus. Dazu passt natürlich auch das Thema Totentanz. Es ist ja ein altes Thema, das schon oft künstlerisch behandelt wurde. Ob es nun der verlorene große Totentanz von Basel oder der 1530 entstandene und 40 Blätter umfassende Totentanz von Hans Holbein dem Jüngeren ist – immer geht es dabei um die Bewusstmachung der Endlichkeit des Lebens und um die Erkenntnis, dass der Tod der großen Gleichmacher ist und aller Besitz, alle Titel und aller Ruhm letztlich nur eitel Schall und Rauch sind. Totentänze waren meist ein Bestandteil der sakralen Kunst als Mahnung für die Noch-Lebenden.
Was sehen wir auf diesen Blättern? Da ist der Schlemihl, eine Figur von Adalbert von Chamisso, jiddisch bedeutet dieses Wort „Pechvogel“, der für ein Säckchen voll Gold, das niemals alle wird, seinen Schatten dem Teufel verkauft. Aber er wird einsam dadurch, denn die Menschen haben Angst vor ihm, weil er keinen Schatten mehr hat – also auch keine Seele. Schlussendlich wirft er den Goldsack fort, kauft sich von dem letzten Geld ein paar Stiefel, die sich als Siebenmeilenstiefel erweisen und mit denen er weiter einsam durch die Welt zieht.
Oder das Blatt „das Weib mit dem Tod“. Es sieht so aus, als ob die Frau den Tod beherrscht. Aber ist es nicht nur eine kurze Illusion? Wer spielt da mit wem? Auf einem anderen Blatt trommelt der Tod. Wozu? Zum Aufbruch, zum Krieg? Wir sehen auch den reitenden Tod, der an einen der apokalyptischen Reiter erinnert, wie sie in der Offenbarung des Johannes beschrieben werden. In einem weiteren Blatt hält der Tod den Menschen wie eine Marionettenpuppe. Er spielt mit ihm. Der Mensch ist in seiner Hand. In jedem Moment kann der Tod die Fäden zerschneiden und die Puppe fallen lassen. Oder das Blatt vom Tod als Schnitter. Wird er nicht in fast allen bildlichen Darstellungen als Gerippe mit der Sense dargestellt? So wie der menschliche Schnitter das Korn mäht. So vernichtete der Tod große Menschenmengen in Zeiten der Pest, des Krieges und von Diktaturen. Dazu fällt ein altes Lied ein, das zuerst 1637 im dreißigjährigen Krieg auf einem Flugblatt erschien: „es ist ein Schnitter, heißt der Tod…“. Hier nur zwei Verse:
S ist ein Schnitter, heißt der Tod
Hat Gwalt vom großen Gott:
Heut wetzt er das Messer,
es schneidt schon viel besser,
bald wird er drein schneiden,
wir müssen´s nur leiden.
Hüt dich, schöns Blümelein!
Viel hunderttausend ungezählt,
was unter die Sichel fällt:
rot Rosen, weiß Lilien,
beid´ wird er austilgen,
ihr Kaiserkronen,
man wird euch nicht schonen.
Hüt dich schöns Blümelein!
Genug der Aufzählung, die Leser mögen es selber betrachten. Nur noch zu einem Blatt ein paar Worte: Es ist 2017, früher als die anderen, entstanden und trägt den Titel „ante finem“. Aber eigentlich ist es das letzte Blatt der Serie. Wir sehen darauf eine düsterrote Sonne und zwei Gerippe, wie in einem Grab liegend. Jetzt ist auch der Tod tot, denn es gibt kein Leben mehr und da der Tod zum Leben gehört, ist er mit dem verstorbenen Leben ebenfalls von hinnen gegangen. Beim Betrachten dieses Blattes fiel mir dazu einer der letzten Texte des heute fast vergessenen Dichters Wolfgang Borchert von 1947 ein mit dem Titel „Dann gibt es nur eins!“. Da heißt es in dem letzten Absatz des vierseitigen Textes: „Dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen Betonklötze verödeter Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend – und seine furchtbare Klage: Warum? wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch.“ Welch nachdrückliche Warnung an uns Lebende. Dr. Paul R. Franke