Jahre später, gleiche Zeit
Am 9. November 2019 jährt sich der Fall der Mauer zum 30. Mal. Die meisten Menschen in diesem Land können sich entsinnen, wo sie an diesem Tag waren, was sie getan und was sie gefühlt haben. Selbstverständlich erinnern sich auch die Theatermacher Ines Lacroix und Matthias Engel, und beim Nachdenken über damals wird ihnen bewusst, wie eng das eigene Erleben mit der großen Weltgeschichte verwoben ist, und dass im Strom der Zeit mit all den epochalen Ereignissen auch ganz Alltägliches stattfindet.
Ines Lacroix formuliert den Widerspruch so: „Jetzt wird ja in Reden und in den Medien viel in die Vergangenheit geschaut. Da hat man das Gefühl, alle waren Revolutionäre, alle sind ständig mit Transparenten oder Kerzen unterwegs gewesen. Stimmt nicht, es hat auch ganz ,normales’ Leben stattgefunden.“ Als Künstler drängt sich für die „Angler“ geradezu die Überlegung auf, diese Gedanken kreativ als Theaterabend aufzuarbeiten.
Sie beginnen nach einem Schauspiel zu suchen, das Biografisches von Menschen zum Inhalt hat und das es ermöglicht, mit künstlerischen Einfügungen einen Zusammenhang mit ihren eignen Erfahrungen in Alltag und Zeitgeschichte herzustellen. Fündig werden sie bei dem kanadischen Autor Bernhard Slade. Er erzählt in zwei Stücken, die für die Inszenierung zu einem verschmolzen werden, von einem Liebespaar, das aber jeweils mit einem anderen Partner verheiratet ist, und sich einmal im Jahr zum gleichen Termin trifft und darüber redet, was inzwischen gewesen ist – privat und in der Welt. Und das, beginnend 1953, über 45 Jahre lang.
Zusammen mit der österreichischen Regisseurin Rosmarie Vogtenhuber und dem Designer Anselm Schwindack entwickeln Lacroix und Engel ein besonderes Format: Auf der leeren Bühne steht nur ein Himmelbett, das im weiteren Verlauf der Vorstellung der Ort der darstellerischen Aktionen sein wird, und das Kontinuum der 45 Jahre bildet, egal, was in der großen weiten Welt passiert. Aus dem Off erklingt die Stimme des Schauspielers Peter Wittig, der als Erzähler das Publikum zu Beginn in das Projekt einführt, und dessen Stimme die Besucher auch weiterhin durch den Abend geleitet, und zwar eines Abends, der aus sechs schauspielerischen Szenen und aus Videoprojektionen besteht.
Diese Videoprojektionen liegen wie ein Netz aus wechselnden Erinnerungen über dem Ganzen. Fotos, Lieder, Filmausschnitte, auch ein Blick in die individuelle Geschichte des Theaters an der Angel und seiner Protagonisten, erzählen die persönliche Sicht des Teams auf den Verlauf der Zeiten. Farben, Klänge und Bilder sollen ein Lebensgefühl wiedergeben, an das die Besucher sich andocken können. „Wenn wir mit Leichtigkeit und Zartheit erzählen, wie man es miteinander und in dieser Zeit ausgehalten hat, kann der Zuschauer vielleicht schmunzeln, ohne dass es eine Komödie wird, denn es war keine. Aber das macht die Vergangenheit möglicherweise ein bisschen versöhnlich“, bringt Matti Engel das Anliegen auf den Punkt. Gisela Begrich