Innehalten, Innewerden
Reiner Bonacks neue Gedichte | Von Albrecht Franke
Der Band Reiner Bonacks trägt einen doppeldeutigen Titel. Und was man nicht immer gern mag, das erweist sich hier als wirkungsvoller Neugier-Erreger. Unter der Überschrift „Die erwachsenen Jahre“ sind die Gedichte des Magdeburger Dichters versammelt. Sind die Jahre erwachsen im Sinne des Verbs, also „entstehen“, „sich entwickeln“, „hervorgehen“? Oder im Sinne des Adjektivs, also „dem Jugendalter entwachsen“, „volljährig“? Betrachtet man das titelgebende Gedicht, so findet man, dass beide Lesarten berechtigt und reizvoll sind: „Als wären sie ohne Morgen; Mittag, Abend, Nacht / ein einziger, maßlos sich dehnender Tag …“ Vergangene Arbeitswelt flimmert auf, die Sehnsucht nach Ferne und Meer, in „rostigen Farben“. Der Text läuft aus in einem nachdrücklichen Bild: „Einmal im Jahr / fuhr ich, wusch mir / die dunkelnde Lebenslinie aus meiner Hand…“ Und was Wehmut hervorrufen könnte, denn ohne die kann es nicht abgehen, wenn einem Jahre erwachsen oder man erwachsen wird in den Jahren und man zum Zurückblickenden wird, das heilt die für Bonack typische leise und im besten Sinne feine Ironie. Wenn man zum Beispiel daran erinnert wird, dass die Welt einst geteilt war in Beatles- und Stonesfans, dass man Sorge trug, an der Kinokasse „nicht alt genug auszusehen“ – wenn dort etwa „Die glorreichen Sieben“ liefen.
Mit diesen Reminiszenzen wird auch Bonacks „Herkunftslandschaft“ aufgerufen: „Zwischen Lübbenau und Senftenberg“, wo auf Bahnhöfen, fuhr man als Junge mit dem Bummelzug, „im Staub die Hühner schliefen“. Viele Bilder von „damals“ – Reiner Bonack ist Jahrgang 1951 –, werden beschworen, und vieles erkennt man wieder, besonders eindrücklich in „Ein grünes Auge glühte“, gemeint ist das magische Auge des Rundfunkgerätes, die Abstimmungsanzeigenröhre, sie wird hier zum Mittel der Magie, dem Kind löscht das gesendete Zeitzeichen „das Ticken der Zeit in der Uhr“, während in den Steckdosen giftige Schlangen nisten, und es „zerrte / draußen der Schwarze Mann an den Läden“. Dass Bonack ein Magdeburger Lyriker ist, das wurde schon sinnfällig in den schönen Kindergedichten des Bandes „Magda Lurch aus Machteburch“. Damit kann man an jedem „Vorlesetag“ Kinder für Gedichte begeistern, auch jene, die sonst vielleicht beim Wort „Gedicht“ das Gesicht verziehen. Magdeburgisches auch hier: die „Glücksgöttin Magdeburg, Ulrichplatz“, das launige und hintergründige „Statistische Erhebung, Magdeburg“, wo gefragt wird, wie viele in der Telemannstraße Händel bevorzugen oder wie groß das Vakuum in der Otto-von-Guericke-Straße sei. Und der Leser wird augenzwinkernd aufgefordert, eigenständige statistische Erhebungen in den „Meerwellen“ oder „am Marsweg“ durchzuführen. Und wenn das „Idyll, Olvenstedt“ den Hintergrund bildet, das wirklich als ein solches empfunden wird, dann wird die Zerrissenheit (oder sollte man besser Bosheit sagen) unserer Zeit einbrechen: „Manchmal nachts/ am Flüchtlingsheim schießt / jemand aus Jux in die Luft.“
Von Magdeburg dann in die Welt. An das geliebte Meer, in ein vom Dichter geliebtes nördliches Land. Die Erkundung und Inbesitznahme der Welt, das gehört zu unseren „erwachsenen Jahren“. Der Autor versteht darunter auch die Aneignung des lyrischen Weltschatzes. Wir finden also Annäherungen an und Bezugnahmen auf Namen, welche diesen Weltschatz verkörpern: Rainer Maria Rilke, Ossip Mandelstam, Wladimir Majakowski, Wallace Stevens, Jannis Ritsos etwa. Man sollte also Bonack lesen oder hören? Ja, unbedingt! Was verpasst der, der es nicht tut? Ihm entgehen zwei wichtige Chancen. Welche? Erstens die des Innehaltens, des Verweilens in Gedankenwelten. Zweitens die des Innewerdens, des Verstehens und Begreifens, mithin der Bezug zum Ich, zum eigenen Leben.
Das Buch „Die erwachsenen Jahre“ ist bei Books on Demand Norderstedt erschienen, ISBN 978-3-8391-2726-1 und für 12,90 € zu haben. Was wie eine Kauf- und Lektüreempfehlung klingt, das ist auch eine!