Zukunft – aber wie?

Kinder sollen möglichst früh auf alles vorbereitet sein, vor allem auf die digitale Welt, allerdings möglichst ohne dabei Probleme erleben zu müssen. Eine Kinder- und Jugendbetrachtung im Spiegel tradierter Vorstellungen.
Kinder sind unsere Zukunft. Eltern wollen ihrem Nachwuchs die besten Voraussetzungen für ihr Leben schaffen. Genauso will man dies als Gesellschaft im Ganzen. Deshalb ist das Ringen um das tragfähigste Fundament stets ein schwieriges. Erziehungs-, Bildungs- und Berufsausbildungskonzepte stehen fortwährend im Mittelpunkt von Debatten. Gleichsam bekommt man den Eindruck, dass die Kritik daran wächst, mit welchen Grundlagen wir den Nachwuchs ins Leben schicken. Und schließlich wird selbiger derart skeptisch beäugt, dass man glauben möchte, die Jugend würde den Herausforderungen künftiger Wege nicht mehr gerecht. Was führt uns zu solchen Einschätzungen? Um zu ergründen, wie eine Schieflage entsteht, müssen wir als Erwachsene selbst in den Spiegel schauen und die eigenen Maßstäbe zur Beurteilung von Zukunftsfähigkeit auf den Prüfstand stellen.
Gerade schüttet die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka 5 Milliarden Euro aus, um jede Schule im Land mit Computern und W-LAN auszustatten. Endlich wird geklotzt und nicht gekle-ckert. Andere europäische Nationen haben da längst die Nase vorn, Deutschland sei in Sachen Digitalisierung ins Hintertreffen geraten. Schnell aufzuholen, klingt schon mal gut. Doch wo wollen wir damit mit Blick auf Kinder und Jugendliche eigentlich hin?
Wir haben selbst keinen blassen Schimmer, wie und was diese digitale Zukunft eigentlich sein soll. Welche Fähigkeiten und Lebenswege sie Menschen abverlangt, welches Wissen und welche Talente förderungsfähig sein würden. Natürlich standen vergangene Generationen vor demselben Problem. Stets versuchten Menschen für ihre Kinder kommende Zeiten vorzudenken und zu planen, ohne selbst dabei sein zu können. Allerdings hat sich innerhalb diesem Lauf der Dinge etwas Grundsätzliches verändert: die Dynamik der Veränderung selbst. Lebensentwürfe waren bis in die 90er Jahre von einer anderen Stabilität als heute. Berufsausbildungen oder Studiengänge reichten bei den meisten noch für ein ganzes Leben (abgesehen vom Wandel für viele Ostdeutsche im Einigungsprozess). Diese Vorstellung ist mittlerweile schon sehr brüchig geworden. Es gibt Prognosen, die behaupten, dass jetzt aufwachsene Generationen vielleicht zehn bis 15 unterschiedliche berufliche Tätigkeiten im Verlauf ihres Lebens ausführen müssten. Wir können uns allerdings noch gar nicht vorstellen, welche das sein würden und wie jemand darauf vorbereitet werden sollte. Auf Teufel komm raus wird also digital aufgerüstet, um nicht in ein Hintertreffen zu geraten, das so klar ist wie der Blick in eine Glaskugel.
Geht es nach manchem Schrittmacher für „Die Zukunft ist digital“, sollten Grundschüler bereits programmieren lernen. Der Code ist alles. Wer nicht an Algorithmen arbeiten kann, sei ein für allemal abgehängt. Deshalb grassiert im Land die Auffassung, man verbaue sich die Zukunft, wenn nicht schon die Jüngsten digital beherrschten. Josef Kraus vom Deutschen Lehrerverband hält dagegen: „Computer haben in der Grundschule nichts verloren.“ Schon jetzt zeigen Untersuchungen, dass elektronische Medien die Nervosität bei Kindern steigern und dass die Konzentrationsfähigkeit abnimmt, wenn sie vor den Geräten sitzen und spielen.
Der schwindelerregende Wandel des Lebens schafft selbst bei Erwachsenen Orientierungslosigkeit. Und mit dem begegnen wir nun der nachwachsenden Spezies. Von der Erfindung des Autos bis zum flächendeckenden Straßennetz vergingen rund 100 Jahre. Schon das war eine Wahnsinnsentwicklung in der Menschheitsgeschichte. Auf der Erde fahren aktuell rund eine Milliarde Fahrzeuge. Die Auswüchse für Ressourcenverbrauch, Umwelt- und Luftverschmutzung sind nicht wirklich zu beherrschen. Dagegen haben wir in nur 20 Jahren über 3,5 Milliarden Menschen ans Internet angeschlossen. Und da maßen wir uns an, zu wissen, wie sanft und fröhlich dieser Fortschritt das Glück auf Erden bescheren würde. Gleichsam beladen wir den Nachwuchs nicht nur damit, diesen rasanten Wandel anzunehmen, sondern auch noch alles Traditionelle der Vergangenheit zu beherrschen und außerdem gilt es, die Potenziale eines Kindes bis ins letzte Gen zu erforschen, damit es unter entsprechender Förderung mit Besonderheit alle anderen überstrahlt.
Damit die kleinen Racker fit für das eigene Leben werden, sollen sie möglichst studieren. Eine akademische Laufbahn verspreche höhere Einkommenmöglichkeiten und „bessere“ Jobs. Wer  ständig diese Botschaft ausruft, vermittelt, ohne es auszusprechen, dass Nichtakademiker einen minderen sozialen Status quo stünden. Es lässt sich ohne viel Mühe absehen, dass manches Handwerk mehr Beständigkeit und Wert in die Zukunft trägt als vielleicht außergewöhnliche IT-Spezialisierungen oder gar sozialwissenschaftliche Karrieren. Genaus das macht es so schwer, einen angemessenen Maßstab aufzustellen, welches Rüstzeug in Zukunft gebraucht würde.
Neben diesen unklaren Arbeitsaussichten existieren weitere Trends, mit denen Heranwachsende heute zusätzlich konfrontiert sind. Da ist zunächst der Erwartungsdruck von Eltern, Lehrern und sonstigen Betreuern zu nennen. In mancher Familie sind Kinder Erwachsenen außerhalb der Schlafenszeit permanent ausgesetzt. Ob unter einer Dauerüberwachung allerdings ausreichend kreatives geistiges Potenzial ausgebildet werden kann, darf bezweifelt werden. Ideen brauchen Langeweile und Zerstreuung, vor allem Möglichkeiten, die Freizeit mit Gleichaltrigen zu verbringen.
Schaut man darauf, welche Grundlage manch großer IT-Guru seinen Kindern legte, erfährt man Erstaunenswertes. Applegründer Steve Jobs bestand darauf, mit seinen Kinder beim Essen über Literatur und Geschichte zu debattieren. Die rechte Hand von Mark Zuckerberg, Sheryl Sandberg, kann nicht einmal programmieren. Manager in der großen Vordenkfabrik Silicon Valley bevorzugen für ihre Kinder Schulen, an denen Computer verboten sind. Warum handelt man dort so? Die Breite an Bildung schafft eine viel bessere Grundlage, um Fantasie anzuregen. Manchmal muss weniger neu gedacht werden. Lesen und Rechnen, Wissen und Erfahrungen sammeln. Die Welt und die Geschichte der Menschen aus Geschichten aufzusaugen – darauf kommt es an. Spezialisierung, unkonventionelles Denken, ungewöhnliche Sichtweise enstehen nicht über schablonenhafte Vorstellungen.
Der Landeselternrat von Sachsen-Anhalt startete mit breiter Unterstützung von Gewerkschaften und Verbänden eine Volksinitiative. Darin wird vom Land die Einstellung von zusätzlichen 1.000 Pädagogen und 400 pädagogischen Mitarbeitern über den aktuellen Lehrerbestand hinaus gefordert. Warum ist der Job in den Schulen eigentlich so schwer geworden? Lehrpläne, Klassenstärken und Schulformen mögen sich verändert haben. Doch diese Art an Ambivalenz war immer. Ganz sicher neu ist das Einwirken von Eltern auf Pädagogen und den schulischen Ablauf. Jeder Lehrer müsse die besonderen Besonderheiten, die ganz individuellen Talente und Fähigkeiten, aber auch die spezifischen Mängel und Eigenheiten der ihnen anvertrauten kleinen Persönlichkeiten erkennen und im Unterricht angemessen berücksichtigen. Kürzlich berichtete eine Lehrerin darüber, was sie zur Klassenfahrt an zusätzlichen Vorbereitungen leisten müsse. Für Kinder müsse sie Herzpässe mitführen, persönliche Ernährungsgewohnheiten und Allergien berücksichtigen oder spezielle Speisepläne für Leistungssportler erfüllen. Da sich solche Individualisierungserscheinungen weiter verstärken, kann man sich gut vorstellen, wie kompliziert sich die Organisation einer Gruppe von 25 oder mehr Heranwachsenden gestaltet. Und diese Einflüsse verbreiten sich in allen Institutionen, in denen der Nachwuchs Zeit bis zur Eigenständigkeit verbringt. Angst vor gesundheitsbeeinträchtigen  Aspekten und andere Gefahren, die immer und überall lauern würden, werden auf noch nicht ausentwickelte Hirne übertragen. Vielleicht erzeugt der fortwährende Versuch, Kinder und Jugendliche vor Problemen zu bewahren oder sie ihnen möglichst abzunehmen, am Ende mehr Druck, als sie die Chance hätten, Lösungserfahrungen zu machen.
Unter welchen Vorbildern wachsen Kinder und Jugendliche heute auf? Die Medienwelt ist noch nie so bunt geworden. Allerdings existiert sie auch nur deshalb in ihrer unübersichtlichen Vielfalt, weil sie mittlerweile täglich millionenfach konsumiert wird. Also hämmert die Reige der Stars aus Musik, Film, Sport und Unterhaltung dauerhaft auf eine junge, unbedarfte Erlebniswelt ein und das über jeden Bildschirm, egal ob TV, Computer, Tablet-PC oder Handy. Wie werden sich Bewertungen der künftigen Spezies Mensch verschieben, wenn sich deren Wahrnehmungen Tag für Tag vorrangig aus einer virtuellen aber seltener aus der realen Welt speisen? Zahlreiche jugendliche Wünsche, es diesen Stars gleich zu tun, sind Ergebnisse solcher gewachsener Bildschirmwelten. Wer als Eltern ein wachsendes Bedürfnis der eigenen Kinder für TV- oder Internetkonsum beklagt, sollte dringend herausfinden, was man diesbezüglich selbst vorlebt.
Mancher Junge und manches Mädchen schreiben sich viel über Messengerdienste oder verfolgen sich in so genannten Sozialen Netzwerken, nur reale Freundschaften pflegen sie keine. Sie werden zur Schule gefahren und wieder abgeholt. Häufig haben sie gar keine Möglichkeit, tiefere soziale Bindungen zu entwickeln. Und ringsumher jammern die „Alten“ – das aber schon immer – dass sich die Jugend nicht respektvoll verhalten würde. Dieses Phänomen ist weniger bedeutsam, als vielmehr die Tatsache, wie verbindliche Beziehungsgeflechte in einer unverbindlichen und sich ständig wandelnden digitalen Scheinwelt ausbilden sollten.
Natürlich müssen auch die kritischen Bewertungen der Analog-Generationen auf den Prüfstand. Unser Verständnis aus Zeiten eines sich eher langsam linear verändernden Lebens stoßen auf eine noch nie gekannte Entwicklungsgeschwindigkeit. Das darf gar nicht ausschließlich negativ betrachtet werden, aber genauso wenig nur rosarot.
Im Übrigen verwundern stets aufs Neue die Botschafter mit ihren Beteuerungen „niemand kann sich der Entwicklung entziehen“ oder „wer sich verweigert, wird zurückbleiben“ und so weiter. Die virtuelle Welt ist komplett menschengemacht. Und sie ist nur so mächtig, weil eben Milliarden Menschen daran teilhaben und die Nutzungsdauer fortwährend wächst. Noch nie gab es ein alltägliches System in der Humangeschichte, das man ohne Berührung mit der Wirklichkeit betrachten konnte. Je mehr Lebenszeit jeder darin verbringt, so webt jeder am Wachsen der Scheinwelt mit und entzieht den realen Bedingungen im eigenen Umfeld ein Stück Existenzgrundlage.
Ob ein Mehr, ein Schneller oder ein Früher im Sinne der Digitalisierung unserem Nachwuchs in der Zukunft wirklich hilft, kann niemand sagen. Und wer anderes behauptet, ist genauso Scharlatan wie jene, die die Welt einzig im Untergang begreifen wollen. Allein die rein zahlenmäßige Einwirkung der erwachsenen Generationen auf die heute nachwachsenden war wahrscheinlich noch nie so intensiv, genauso wie alles, was heute alles als richtig oder falsch, wahr oder Illusion vorgehalten wird. Erwachsene sollten sich eingestehen, dass niemand allein eine Chance hat, die Mannigfaltigkeit des Lebens zu begreifen und deshalb zurückhaltend dabei sein, dies von jungen Menschen zu verlangen. Mit 20 glaubt man, die Welt verstanden zu haben. Spätestens mit 50 sollte man wissen, dass sie undurchschaubar bleibt. Das gilt es, künftigen Generationen zu vermitteln. Thomas Wischnewski

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