Zuckerrübe und Zichorien bringen den Wirtschaftsboom

Muckefuck von der Elbe: Die Malzkaffeefabriken Kathreiner in Magdeburg.

Preußischer Kaffeegarten und größte Rübenprovinz Deutschlands bringen den Maschinenbau in Schwung.
Ein bedeutender Anschub für die industrielle Entwicklung der Region ging von der Landwirtschaft in und um Magdeburg aus. Zuckerrüben und Getreide galten als die wichtigste Basis. So entstanden Darren, Spiritusbrennereien und Zuckerfabriken, ebenso Mühlen, Molkereien und Käsereien. Besonders der Zuckerhandel verschaffte der Stadt einen immensen Aufschwung. Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts galt er als Fundament des Magdeburger Handels. Ende des 18. Jahrhunderts gab es mehr als 100 Unternehmen, die als Großhändler, Spediteure und Materialwarenhändler ihren Unterhalt mit dem Zuckerhandel verdienten.

Schon 1765 war die Magdeburger Börde als „preußischer Kaffeegarten” bekannt. Um 1800 arbeiteten bereits mehr als 700 Menschen an der Herstellung von Kaffeeersatz aus Zichorienwurzel. Schließlich galt der echte „Bohnenkaffee" noch als ein fast unerschwingliches Luxusgut. Die Kontinentalsperre – eine Handelsblockade des europäischen Festlandes gegen England, die am 21. November 1806 durch Napoleon in den Berliner Dekreten 1” ausgesprochen wurde – traf das Magdeburger Wirtschaftsleben schwer: Textil- und Tabakwarenproduktion kamen fast zum Erliegen, der Kolonialwarenhandel erlitt schwere Einbußen. Dafür boomten jetzt Zuckerrüben- und Zichorienanbau. Bereits vor der Kontinentalsperre ließ der preußische Staat Musterfabriken für die Verarbeitung von Rübenzucker bauen, nachdem Franz Carl Achard 1784 zuckerhaltige Rüben gezüchtet und ein brauchbares Verfahren zur fabrikmäßigen Gewinnung von Rübenzucker entwickelte. Die frühen Magdeburger Zuckerraffinerien und Siedereien arbeiteten noch mit Importprodukten aus Übersee. Erst nach Erlass der Kontinentalsperre kam es zum massenhaften Anbau der Zuckerrübe in der Börde, die das Bild dieser landwirtschaftlichen Region entscheidend änderte. Im Jahr 1812 gab es in Magdeburg bereits acht Rübenzuckerfabriken; die Anbauflächen umfassten knapp 400 Hektar.

Typische Bördetracht einer Bäuerin und eines Bauern im 19. Jahrhundert

Nach Beendigung der Kontinentalsperre erfuhr die Rübenzuckerproduktion einen harten Rückschlag, da sie dem preisgünstigeren europäischen Rohrzucker nicht gewachsen war. Erst mit verbesserten Züchtungsergebnissen stieg die Attraktivität der Zuckerrübe wieder. Die bestehende Hackkultur begünstigte den Zichorien- und Runkelrübenanbau ebenfalls. Viele Saisonkräfte waren nötig, um den Arbeitsanfall zu bewältigen: Reisende jener Zeit berichteten von eindrucksvollen Reihen zu 100 oder gar 150 Wanderarbeitern und Wanderarbeiterinnen, die auf den Feldern hackten und jäteten.  

In den Jahren nach 1830 wuchs der Rübenanbau schließlich zur konkurrenzfähigen Alternative zum Rohrzuckerimport. Vor allem die maschinierte Anbau- und Verarbeitungstechnik verhalf Zucker schließlich vom importierten Luxusgut aus Übersee zum Allerweltsprodukt. Die Erhöhung des Zolls für Rohrzucker im Jahr 1836 beschleunigte diese Entwicklung. 1849 zählte die Stadt elf Zuckerfabriken, acht Raffinerien und 21 Zichorienfabriken mit insgesamt fast 3.000 Beschäftigten und prägten den Begriff „Rübenprovinz Deutschlands”. Insgesamt gesehen wies die Region um die Jahrhundertmitte mehr als die Hälfte aller deutschen Zu-ckerfabriken auf. Allein im Regierungsbezirk Magdeburg standen 50 Prozent der Zucker produzierenden Betriebe. Bis 1840 gab es in Sudenburg sieben und in der Neustadt fünf neue Fabriken. 1849 produzierten allein in der Altstadt elf Rübenzuckerfabriken und acht Zuckerraffinerien. Beste Voraussetzungen für die Zuckerproduktion boten der fruchtbare Lößboden, natürliche Wasserstraßen mit handelsstrategischer Bedeutung, eine günstige Brennstoffversorgung, ein relativ ausgebautes Straßen- und Wegenetz sowie der frühe Eisenbahnanschluss.

Prospekt der Bonbonmaschinenfabrik H. Lichtenberg in der Neustadt.

1841 gründete sich in Magdeburg der „Verein der Runkel-Rüben-Zucker-Fabrikanten Deutschlands" als Interessengemeinschaft von rund 140 Unternehmern. Zwar ließen zahlreiche Konjunkturschwankungen die Entwicklung unstetig verlaufen. Aber dennoch verdankt Magdeburg der Zuckerrübenindustrie den entscheidenden Impuls für den industriellen Aufschwung. Die ertragreiche Landwirtschaft förderte wiederum die Nahrungs- und Genussmittelindustrie: So avancierte Magdeburg nicht nur zur Hochburg der Zuckerrübe und des Malzkaffees – auch Schokoladen- und Kakaofabriken sowie zahlreiche Brauereien und Mühlen siedelten sich in der „Kornkammer Preußens” an.

Die Rübenverarbeitung zog wiederum die Produktion von chemischen, maschinellen, textilen, metallenen sowie handwerklichen Erzeugnissen und Dienstleistungen nach sich. Besonders förderte sie die Maschinenbauindustrie. Zu einem der der ersten (nicht adeligen) Großunternehmer war Johann Gottlob Nathusius als Eigentümer von Zichorien- und Zuckerfabriken, Spiritusbrennereien und Bierbrauereien, Tabakmanufakturen, Ziegeleien, Töpfereien und einer Porzellanmanufaktur aufgestiegen. 1813 produzierte er bereits 163 Dezitonnen Zucker aus 5.450 Dezitonnen Rüben. 1815 unternahm er den Versuch in Hundisburg bei Haldensleben für 100.000 Taler eine Maschinenfabrik, Eisengießerei und Kupferschmiede zu gründen. Zu diesem Zweck reiste er nach England, um dort fähige Mechaniker anzuwerben. Ihm folgte der Maschinenbauer Samuel Aston aus Merthyr-Tidvil in Wales nach Deutschland. Da das Unternehmen in Hundisburg jedoch mit Startschwierigkeiten zu kämpfen hatte, ging Aston nach Magdeburg. So kam es, dass die erste Maschinenfabrik in Magdeburg der englische Monteur Samuel Aston 1823, zuerst in Form einer mechanischen Werkstatt, gründete. Sie befand sich am Knochenhauerufer 19. Aston wollte maschinelle Einrichtungen für Zuckerfabriken bauen. Mit dem zunehmenden Erfolg seiner Werkstatt trat Samuels Bruder Georg Aston in die Firma ein, welche nun auf ein größeres Grundstück Tränsberg 48/49 umzog und sich den Namen Maschinenfabrik und Eisengießerei Gebr. Aston & Co. zulegte. In dieser Maschinenfabrik wurden seit 1823 „sowohl sehr zweckmäßige, nach eigener Idee construirte, dauerhafte Dampfmaschinen, als auch hydraulische Pressen, Wasserpumpen, Brennerei-Apparate und dergleichen” hergestellt.

Blick in die Werkstätte für Großarmaturen der Firma Polte.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Magdeburg zu einem beachtlichen und beachteten Zentrum der Metallindustrie, das besonders auf dem Gebiet des Maschinen- und Apparatebaus einiges zu bieten hatte. Die Einführung der Dampfmaschine als Schrittmacher der Indus-trialisierung markiert einen Wendepunkt in der Warenproduktion. Dieser Entwicklungsschub steht in Zusammenhang mit dem Aufschwung der Lebensmittelindustrie – vor allem des Rübenanbaus – und dem Ausbau des Verkehrswesens. Auch der Kalisalz-und Braunkohleabbau in der Staßfurt-Oscherslebener Mulde boomte. 1836 entstand die „Gräflich Stolbergische Maschinenfabrik”, die im 19. Jahrhundert zahlreiche Zuckerfabriken in Deutschland ausrüstete.

1838 entstand die Maschinenfabrik Buckau, die aus der Vereinigten Hamburg-Magdeburger Dampfschiffahrt-Compagnie hervorging. Dieses klassische Werk des Dampfmaschinenbaus stieg bis 1847 mit 800 Beschäftigten zum zweitgrößten Industriebetrieb Deutschlands auf. Neben den zehn Kaufleuten und Stadtvätern, die das Unternehmen ins Leben gerufen hatten, zählt beispielsweise Hermann Gruson zu Magdeburgs Gründervätern der Industrialisierung. Weitere Antriebskräfte der Industrialisierung waren Rudolf Wolf, der 1862 mit der Herstellung von Lokomobilen begann, und Bernhard Schäffer (Schäffer & Budenberg, 1850), der das Plattenfeder-Manometer entwickelte, das sich als weltweiter Renner erweisen sollte. Weiterhin gründete C. Louis Strube 1864 seine Maschinen- und Armaturenfabrik, und Otto Gruson legte 1871 den Grundstein für ein Eisen- und Stahlwerk mit Zahnräderfabrik. Eugen Polte errichtete 1885 ein Unternehmen, das zu einer bedeutenden Munitionsfabrik aufstieg. In der Tradition des Magdeburger Maschinenbaus steht auch die Gründung der „Maschinenbauschule für Werkmeister” am 1. November 1891. Vier Jahre später entstand daraus die „Maschinenbauschule", seit dem 1. April 1905 als „Königliche Maschinenbauschule" in staatlicher Trägerschaft. Die Industrialisierung musste sich in Magdeburg zunächst in das enge Korsett des Festungsgürtels zwängen: Der Expansion stand ganz konkret der fehlende Raum entgegen. Daher siedelten sich die meisten Unternehmen in der Neustadt, Sudenburg und in Bu-ckau an und machten diese Vororte so zu den Trägern der industriellen Entwicklung. Ronald Floum

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