Wo ist nur die Zeit hin?

Jetzt ist die Zeit der Beschleunigung. Im Advent gehen die Uhren irgendwie schneller. Jedenfalls kommt es vielen so vor. Und das geschieht in einer Phase, in der sich die Welt offenbar ohnehin schneller dreht und das Leben an Rasanz gewinnt. Dabei sollte gerade der Jahresausklang Besinnlichkeit und Ausklang mit Ruhe von den Mühen der Monate schenken. Was passiert? Genau das Gegenteil. Geschäftige Hektik, letzte Besorgungen, Mitschwimmen im Getümmel der Geschenkesucher. Alle scheinen mitgerissen und vielstimmig tönen die Klagen über die verfliegenden Tage und engen Stunden, deren Taktung aus der Zeit geraten sein muss.

Natürlich ist der Aufschrei über alles Davoneilende oder jenes, das beschleunigt in die Vergangenheit fällt, nur eine große Illusion, ein selbstgemachtes Leid und genauso bedeutsam wie die Worte, die übers Wetter gewechselt werden. Das ist genauso oft passend. Warum will uns das Leben mit seinen Phänomenen nicht passen wie ein Maßanzug? Immer klemmt etwas im Sein, zwickt und ärgert uns. Besonders auffällig sind die Schuldzuweisungen. Oft müssen die Umstände für die Zeitmiseren herhalten oder einfach die anderen, solche die etwas verlangen, in unpassenden Momenten dazwischenfunken oder sich anderweitig in unser Leben einmischen und Aufmerksamkeit wollen. All das zerrt vermeintlich an uns und damit an der Zeit, die ein permanent knapperes Gut wird. Und das wird sie ja in der Tat. Schließlich verkürzt sie sich mit jedem Augenblick zum Ende des Lebens hin. Daran denkt man natürlich nicht so häufig. Der Verlust an Zeit wird vorrangig damit verbunden, dass sie von jemandem gestohlen würde. Alles nagt heute an unserer Zeit. Aber dies ist und bleibt eine Illusion. An unserem Leben zerren andere Zeitgenossen. Das kann so sein. Aber die Zeit nehmen wir uns in Wirklichkeit selbst, weil wir fortwährend neuen Dinge Aufmerksamkeit schenken. Die Blicke aufs Smartphone, das Aktualisieren von Apps, das Kontrollieren der Kommunikationskanäle, das Durchstöbern von Shopping- oder Nachrichtenseiten – all das lässt am Ende weniger Gelegenheit für anderes. Wir sind uns selbst Zeitfresser. Während die durchschnittliche Lebenserwartung steigt, verändert sich das individuelle Zeitgefühl in Richtung Beschleunigung und Verkürzung. So spannend und hilfreich viele technische Neuerungen auch sein mögen, letztlich widmen wir ihnen unsere Zeit und wundern uns, dass für Dinge, die wir früher so gern taten plötzlich weniger Möglichkeiten übriggeblieben sind.

Keine Zeit zu haben, ist übrigens eine ganz wundervolle Ausrede dafür, sich mit dem Anliegen von anderen gar nicht beschäftigen zu wollen. Wofür das Argument „keine Zeit“ so alles herhalten muss. Dabei kann die Zeit selbst noch nicht einmal etwas dafür. Zeit für Veränderung – das ist eine genutzte Floskel, um dem Leben eine neue Wendung zu geben. Die Zeit hat nur insofern etwas damit zu tun, dass man einen Zeitpunkt ausmacht, an dem man etwas anders machen wollte.

Allen Zeitklagenden sei empfohlen, einfach einmal alles stehen und liegen zu lassen. Kommunikationsgeräte ausschalten, Nachrichten ignorieren, Stille einziehen lassen, keine Termine vereinbaren und sich nichts vorzunehmen. Sie brauchen diese Übung noch nicht einmal lange durchführen. Ganz schnell werden Sie bemerken, dass sie sich irgendwie unruhig oder kribbelig fühlen. Man spürt dann nichts anderes, als dass man von der Permanent-Reizung seines Geistes schon abhängig ist. Unser modernes Zeitproblem steckt in uns selbst. Natürlich gibt es da noch den sogenannten Badewanneneffekt: Aus der vollen Wanne läuft das Wasser erst ganz langsam ab und zum Schluss erscheint die Abflussgeschwindigkeit enorm zuzunehmen. Dieses Wahrnehmungsphänomen passiert uns auch am Jahresende. Noch wenig verbleibende Tage kommen uns kürzer vor als dieselbe Frist im Verlauf eines Jahres. Wir messen die Dinge eben oft vom Ende her. Ich hoffe, Sie finden im Advent Gelegenheiten, die angeblich so wichtigen Benachrichtigungen auszublenden. Und lassen Sie sich um Himmelswillen nicht von solchen Leuten anstecken, die stets über zu wenig Zeit klagen. Klagen fressen nur wertvolle Zeit. Thomas Wischnewski

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