Weiße Mäuse und andere Visionen

Und Visionen, haben Sie Visionen?“, fragt der Psychiater, wenn der Patient von Stimmen berichtet, die niemand sonst, nur er selber hört. „Sehen Sie Dinge oder Personen, von denen Andere behaupten, das sei Unsinn, da wäre gar nichts?“ Der Gedanke an weiße Mäuse drängt sich auf, und tatsächlich, helle Flecke, die durch die Gegend huschen und entsprechend gedeutet werden, sind gar nicht so ungewöhnlich. Alkoholiker berichten von solchen Tierchen, mitunter auch Konsumenten anderer Rauschmittel. Nicht nur Ohr und Auge, alle unsere Sinne können uns etwas vorgaukeln. Man riecht oder schmeckt, was gar nicht wirklich ist, man wird von Personen berührt, die es nicht gibt, unsichtbare Ameisen krabbeln die Beine hoch, Strom kreist prickelnd durch die Organe, das Gehirn schwappt hin und her. Sofern vorübergehend, mögen Halluzinationen durchaus normal sein. Zum Beispiel auch, wenn eine Frau ihren Ehemann im Nebenzimmer sprechen hört oder ihn im Park spazierengehen sieht, obwohl er vor Kurzem verstorben ist. Bei Schlafstörungen oder im Fieber sind Halluzinationen ein Begleitsymptom. Und dass wir im Traum ganzer Szenen gewahr werden, die gar nicht der Wirklichkeit entsprechen, ist jedermann aus dem Eigenerleben geläufig. Nur eben, wir erwachen und wissen wir sofort: Alles geträumt! Wieso eigentlich? Die Wissenschaft hat darauf bis heute keine befriedigende Antwort gefunden. Zwar scheint es uns ganz selbstverständlich zu sein, wenn wir zwischen Fakt und Fiktion klar unterscheiden, aber was schon heißt „selbstverständlich“? Kaum etwas ist davon weiter entfernt als das, was die Arbeit unseres Gehirns betrifft.

Warum, so muss man sich fragen, bleibt der Schizophrene dabei, dass die von ihm halluzinierte Welt real ist? Womöglich meint er sogar, wir Normalos seien nicht normal, da wir einfach nicht begreifen können, dass seine Gedanken durch Andere entzogen werden. Und wieso hält bei Wahnkranken der Realitätsverlust auch im Zustand der Wachhelligkeit an? So sehr sich die Hirnforschung bemüht, so etwas wie eine innere Instanz auszumachen, die zwischen Sehen und „Sehen“ unterscheidet, sie blieb bis heute ohne Erfolg. Ähnlich die Frage, wieso Menschen, die ansonsten eher normal wirken, Wahnideen produzieren. Sie mögen einen Auftrag als Gesandter Gottes verspüren, ja, Gott selbst wollen sie erschaut haben! Manche von ihnen sind Stifter von Religionen und religiösen Sekten geworden, die seitdem große Erfolge feiern. Keine Religion kann auf Visionen „übernatürlicher“ Art verzichten. Sogar Menschenmassen werden von derlei Erfahrungen erfasst. Das Sonnenwunder zum Beispiel, das am 13. Oktober 1917 in der Cova da Iria nahe Fátima in Portugal von zigtausenden Menschen beobachtet wurde. Es ist der Ort, an dem zuvor Hirtenmädchen eine Marienerscheinung erlebt haben wollten,  „Unsere Liebe Frau von Fátima“ genannt. Einer der Augenzeugen des Sonnenwunders ist der Professor der Naturwissenschaften an der Universität Coimbra, Almeida Garrett: „Die Sonnenscheibe blieb nicht unbeweglich. Dies war nicht das Funkeln eines Himmelskörpers, denn sie wirbelte um sich herum in einem wilden Strudel, als plötzlich ein Lärm von allen Leuten gehört wurde. Die Sonne schien sich wirbelnd vom Firmament zu lösen und bedrohlich auf die Erde zuzurücken, als ob sie uns mit ihrem riesigen feurigen Gewicht zerquetschen wolle.“

Aber auch wir selbst, was nicht alles „sehen“ wir mit unserem geistigen Auge, was für das physische Auge völlig unsichtbar ist. Da sitzen wir vorm Schachbrett und sehen die nächsten Züge voraus. Wenn wir den weißen Springer nach vorn setzen, klar, da flitzt dessen schwarze Dame aus der Ecke. Oder sein Turm. Ähnlich ist es mit Knobelaufgaben. Übliche Denkpfade versagen. Man muss gleichsam um die Ecke gucken können, um eine Idee für die Lösung zu finden. Und so ist das auch im gewöhnlichen Leben. Immer heißt es, die Folgen abzusehen, die nächstliegenden, die übernächsten und die überübernächsten. Der Mensch ist für solche Aufgaben wie geschaffen. Selbst die mit uns nächst verwandten Tiere können da nicht mithalten. Nicht nur Wissen ist gefragt, viel mehr noch Intelligenz.

Wie man etwas erfindet oder wie etwas Neues zu entdecken ist, mag in einem gewissen Umfang erlernbar sein. Das heißt aber zugleich: in Grenzen. Es gibt Menschen, die besonders begabt sind, dank Ihres geistigen Auges etwas Neues zu erfinden oder zu entdecken. Es sind die geborenen Seher, die Visionäre. Neben Leonardo da Vinci ist einer der berühmtesten und erfolgreichsten der Amerikaner Thomas A. Edison gewesen. Die Skala seiner mehr als 20 Erfindungen reicht von der Kohlefaden-Glühlampe über den Drehrohrofen für die Zementherstellung bis hin zum elektrischen Stuhl. Eine einzige, dafür aber besonders folgenschwere Entdeckung war es, die den Mikrobiologen Alexander Fleming berühmt gemacht hat. Wie andere seiner Kollegen auch, hatte er regelmäßig gegen die Verpilzung seiner Bakterienkulturen zu kämpfen. Dort, wo der Schimmelpilz Penicillium notatum wuchs, war für die Bakterien kein Fortkommen. Weitere Untersuchungen führten zur Entdec-kung und schließlich zur Produktion des Antibiotikums Penicillin. Alle Erfinder „sahen“ etwas, was auf ihrem jeweiligen Gebiet andere vor ihnen hätten ebenfalls sehen können, aber nicht sahen. Manche von ihnen hatten vielleicht die Arbeit gescheut, die mit der Ausarbeitung einer Entdeckung oder Erfindung verbunden ist. Ohne Fleiß kein Preis. Visionäre einer anderen Art finden oder erfinden etwas, das sich weder anfassen lässt, noch sich irgendwie sichtbar machen ließe. Ihren Gehirnen entststammen die großen Theorien, solche der Mathematik, Physik, Astronomie, Chemie, Biologie und Sozialwissenschaften bis hin zur Philosophie und der Wissenschaft selbst. Auch hier wieder gilt: Ihre Kollegen hatten die gleichen Chancen, aber eben nicht das seherische Vermögen. Mitunter streiten sich ganze Scharen von Wissenschaftlern darüber, was an den Theorien denn nun wahr ist und was falsch, was belegbar und was nur vermutet werden kann. Zumeist geht dieser Streit an den Menschen des Alltags vorüber. Was schon und wen überhaupt interessiert, ob es einen Urknall gegeben hat oder nicht, und was vor dem Urknall war, falls es ein Vordem gegeben haben sollte.

Anders verhält es sich mit Visionen, die sich direkt an uns Menschen bzw. an unsere Gesellschaft wenden. Immer versprechen sie Gutes. So Schillers „Alle Menschen werden Brüder“ (und Schwestern!) oder Martin Luther Kings „I Have a Dream“. Bedenklich hingegen das „Refugees Welcome“ unserer Kanzlerin, aus dem unversehens ein „Everybody‘s Welcome“ geworden ist. Während sich die Theorien der weiter oben genannten Art auf ihre Gültigkeit hin im Labor oder schlicht auch auf dem Papier prüfen lassen, geht das bei solchen mit sozialpolitischem Ansatz nicht. Zumindest nicht ohne Weiteres und schon gar nicht ohne den Einsatz demokratischer Mittel. Höchst bedenklich sind daher Ansätze, deren Realisierung auf ganze Bevölkerungen, Staaten oder Staatengruppen abzielt. Grundsätzlich gilt, Bewährtes zu erhalten, solange das Neue nicht hinreichend auf Praxistauglichkeit und Verbesserung der bisherigen Qualität geprüft wurde. Bei der Einführung neuer Medikamente ist das Pflicht, nicht z. B. bei der von neuen Bildungsstrategien. Was nicht alles wurde von großen Weltverbesserern versprochen, und wie oft ist das Ende ein Fiasko gewesen oder gar schieres Grauen. Auf diese Weise haben es so manche, die ihre Visionen ungeprüft zur Praxis werden ließen, bis in die Geschichtsbücher geschafft: Robespierre, Danton und Napoleon, Lenin, Hitler und Stalin, Che Guevara und Fidel Castro, Mao Zedong und Pol Pot, Kim Il-sung, gleichermaßen Bin Laden.
Keine Frage, wir brauchen Visionäre und deren Visionen, wir brauchen sie dringend! Nicht minder aber die gewissenhafte Prüfung ihrer Entdeckungen, Erfindungen, Theorien und großen politischen Ziele, bevor sie Praxis werden. Der Erfolg entscheidet darüber, ob wir dem globalen Wettbewerbsdruck standhalten. Pessimisten fragen, wie lange noch. Prof. Dr. Gerald Wolf

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