Wandern: lebensnotwendiger Zwang und Freizeitspaß
Das Wandern ist des Müllers Lust“, hat mein Opa früher des Öfteren gesungen. Zuhause im Garten oder auch wenn wir im Wald unterwegs waren. Als Kind habe ich nicht verstanden, warum das Wandern ausgerechnet des Müllers Lust ist. Und warum Opa, der weder mit Nachnamen Müller hieß noch dem Beruf des Müllers nachgegangen war, ausgerechnet diese Worte singt. Heute weiß ich, dass es die erste Zeile des Gedichtes „Wanderschaft“ von Wilhelm Müller ist. Das Gedicht wurde von mehreren Komponisten, u.a. von Franz Schubert, vertont. Als Volkslied Bekanntheit erlangte jedoch die Version aus dem Jahr 1844 von Carl Friedrich Zöllner.
Das Wandern also – es war auch meines Opas Lust. Am Wochenende machten wir uns hin und wieder mit der ganzen Familie auf den Weg zu einer der Gaststätten in der Region – immer wandernderweise, durch den Wald, über Hügel, durch Täler. Für mich als Kind eher eine Expedition als ein „Spaziergang“ zum Restaurant. Auf mehreren Kilometern über Stock und Stein – beschwerlich für meine kurzen Beinchen, die viel mehr Schritte machen mussten, um mit den Erwachsenen mithalten zu können – gab es vieles zu entdecken. Bäume, Blumen, Vögel, Insekten. Ein Abenteuer, um das Kind, das möglicherweise kurz vor dem Quengeln stand, davon abzulenken, dass die Gaststätte noch immer nicht erreicht war. Vom Zuhause auf dem Rückweg ganz zu schweigen.
Opas Unternehmungen uferten jedoch nicht immer in solch ausgedehnte Wanderungen aus. Oftmals war er auch nur für ein, zwei Stündchen im Wald verschwunden. Eines hatten seine Ausflüge jedoch immer gemein, egal ob von kurzer oder langer Dauer: Es gab ein Ziel, eine konkrete Aufgabe. Heidelbeeren, Brombeeren oder Himbeeren wurden gepflückt, Pilze wurden gesucht, ein großer abgestorbener Ast wurde nach Hause transportiert, um ihn als Feuerholz zu nutzen, im Winter wurden die Futterkrippen für das Wild aufgefüllt. Es gab keinen Grund, um nicht eine kleine Wanderung zu unternehmen. Mit Sicherheit genoss er auch die Ruhe im Wald, erfreute sich an der Luft, die das feuchte Moos und die Nadelbäume verströmten. Vielleicht hatten die Ausflüge auch etwas Meditatives. Gesprochen habe ich mit ihm darüber nie. Derlei Fragen kamen mir als Kind nicht in den Sinn und inzwischen ist es dafür zu spät.
Mit Oma allerdings habe ich mich häufiger darüber unterhalten. Nicht über Opas Wanderungen, sondern über ihre. Andere Zeit, anderer Zweck. Damals, nach dem Krieg, als die Lebensmittel knapp waren und das Leben im Allgemeinen eine Herausforderung. Damals hat sie sich regelmäßig einen vollgepackten Tragekorb auf den Rücken geschnallt. Keinen teuren Wanderrucksack mit Netzrücken zur optimalen Rückenbelüftung, mit gepolsterten Schulterträgern, mit höhenverstellbarem Brustgurt, der die Schultergurte stabilisiert oder mit verstellbarem Hüftgurt, der die Schultern entlastet und den größten Teil des Gewichts aufnimmt. Nein. Mit einem unbequemen, unhandlichen Tragekorb hat sie sich – gemeinsam mit anderen Personen aus dem Ort – auf den Weg gemacht. Kilometerweit. Tagelang. Zu jeder Jahreszeit.
Im Gepäck hatte sie immer die damals besonders wertvolle „Währung“ Lauschaer Glas. Ziel ihrer Wanderung waren Dörfer und Städtchen, die in landwirtschaftlich reicheren Regionen lagen und somit Lebensmittel im Tausch gegen Waren aus Glas versprachen. Der Thüringer Wald hatte zwar im Sommer und Herbst einiges zu bieten – diverse Beeren, Kräuter und Pilze. Das reichte jedoch bei weitem nicht aus, um die Familie zu ernähren. Also nahm meine Oma immer wieder beschwerliche Wege auf sich, um die Nachkriegsjahre zu überstehen. Und auch später, als Deutschland bereits geteilt war, sollte sich das Glas aus Lauscha als wertvoll erweisen. Das ist jedoch eine völlig andere Geschichte …
Ebenso wie meine Oma und mein Opa bin ich auch gern draußen unterwegs – „outdoor“ wie man auf neudeutsch sagt. Allerdings mit bequemen Schuhen, einem praktischen Rucksack, wetterfester Kleidung und je nach Bedarf mit ultraleichten Wanderstöcken. Und das alles zum Spaß, zur Erholung, um etwas von der Welt zu sehen, um dem Kopf mal eine Auszeit zu gönnen. Nicht, weil ich es muss und weil es keine andere Möglichkeit gibt, sich fortzubewegen als per pedes. Nein. Beim Wandern kann man dem Alltag entfliehen, die Seele baumeln lassen und in Ruhe die Natur genießen. Es gibt nur eine Aufgabe, die es zu erfüllen gilt: irgendwo ankommen – ob an einem fürs Zelt geeigneten Platz oder einer Unterkunft, die vorher gebucht wurde. Ein Fuß wird vor den anderen gesetzt und oftmals ist der Ton, den die Wanderschuhe beim Auftreten auf dem Boden verursachen, das einzige von Menschen verursachte Geräusch, das weit und breit zu hören ist. Keine Autos, keine klingelnden Telefone, keine aus Lautsprechern dröhnende Musik, keine nörgelnden Menschen, kein Bildschirmflimmern. Ruhe. Natur. Wetter. Sonst nichts. Der perfekte Urlaub. Ich frage mich bloß, ob Oma und Opa das auch so gesehen hätten. Tina Heinz