Von hüben und drüben
Der 30. Jahrestag des Mauerfalls gibt dem Land Anlass, sich über die Ost-West-Problematik auszulassen. Es geht um Klischees der „Ossis“ und „Wessis“, Lebensmittel, die träumerische Nostalgie wecken und die Floskel „früher war alles besser.“ Selbst so junge Menschen, die nicht einmal im geteilten Deutschland geboren wurden, sind mit hoher Wahrscheinlichkeit über ihre Eltern und andere Menschen in ihrer Umgebung mit dem Unterschied konfrontiert und tragen deren Einstellungen weiter. Dass Ossis misstrauische, obrigkeitshörige und fleißige Sparfüchse seien, steht arroganten und verschwenderischen Snobs von der anderen Seite der Mauer gegenüber. Meine Erfahrungen mit dem großen W sammelte ich auf intensive Weise bei einem Journalis-tenseminar im Jahr 2016. Als sich für zwei Wochen um die 25 journalistisch begeisterte Schreiberlinge in einer Hütte in der Eiffel trafen, fand ich mich nicht nur als Jüngste der Runde wieder, sondern auch als einziger „Ossi“. Mit gerade achtzehn Jahren wusste ich nur, was man mir erzählt hatte. Im Geschichtsunterricht, Zuhause oder bei der Arbeit. Die Story um das geteilte Land steht in großen Buchstaben in unseren Geschichtsbüchern, und für mich war es stets „nur“ ein bedeutungsträchtiger Teil der Geschichte Deutschlands. Natürlich macht diese einen wichtigen Teil unserer Identität aus, aber sie ist eben auch Vergangenheit. Nachdem ich das vierundzwanzigste Mal erklärt hatte, wie spät Viertel-Eins ist und dass es mit „Viertel-nach“ und nicht „Viertel-vor“ übersetzt wird, war nur einer der Steine, an dem sich unsere Wellenlänge brach, aus dem Weg geräumt.
Von Eltern, Freunden der Familie übernehmen wir Klischees und Floskeln, nach dem Motto „Wir sind die und ihr seid die Anderen.“ Dabei ist genau das das Problem. Nach drei Jahrzehnten, in denen unsere Welt von anderen Krisen erschüttert wird, denke ich mir: „Habt ihr keine anderen Probleme?“ Im Alltag interessiert mich nicht, ob man sich als Ossi oder Wessi fühlt, ob jemand Viertel-vor oder Dreiviertel sagt. Ich bin sicher, dass „wahre Ossis“ nicht begeistert waren als Engel „Jahresendflügelfigur“ hießen oder Fahnen als „Wink-Elemente“ bezeichnet wurden. Dennoch bemerkt man in jedem Gespräch über die Unterschiede von Ost und West, dass der anderen Seite kaum etwas gegönnt, und die eigene Identität heroisiert wird.
„Wessis“ regen sich über den Soli auf, weil sie nicht wissen, dass „Ossis“ den auch bezahlen. Dabei wusste bei dem Satz „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“ keiner, dass er zum „Ossi“ oder „Wessi“ werden würde. Also müssen wir aufhören, das so zu differenzieren. Wenn wir immer in Mustern denken, die einen Teil vom anderen unterscheiden, kommen wir nie auf den gemeinsamen grünen Zweig. Aber da es auch in der Natur des Menschen liegt, seinem Verdruss ein Ventil zu geben und sich auf Dinge einzuschießen, die uns triggern, suchen wir uns doch etwas, das jeden stört. Uns zusammen aufregen und dann auch versuchen, die Situation zu verbessern und selbst zu besseren Menschen zu werden. Denn der Versuch, sich als „Ossi“ oder „Wessi“ über den jeweils anderen zu erheben, wird keinen von beiden je weiterbringen. Besonders keine Generation, die nur den Konflikt ihrer Vorfahren fortträgt. Swantje Langwisch (Studentin)