Vision oder Illusion

Visionen sind der Stoff, aus dem Zukunft genäht wird. Doch wachsen sie einzig aus der Ungewissheit über alles Kommende. Jeder muss im Meer der Möglichkeiten eine eigene Vision fürs seinen Lebensweg entwickeln, Menschgruppen planen Unternehmungen oder initiieren gesellschaftliches Engagement. Genauso gibt es gesellschaftspolitische Visionen, die aber ohne das Tragen einer Mehrheit nicht in die Wirklichkeit finden. Eine Idee mag ein Initialfunke sein. Ausgestaltet mit Überlegungen, welche Handlungen folgen sollten, reift die Idee zur Vision. Grundsätzlich mag das Visionäre positiv besetzt sein, weil alles, was Menschen entwickeln, entdecken und schaffen, zuvor ihren Ideen entsprungen war. Allerdings hat mancher Plan auch Schattenseiten. Die Grenzen zwischen Traum und Vision sind fließen. Fehlen Energie, Mut und Tun, bleibt jedes Vorhaben doch nur ein Hirngespinst. Und manche Vision, die so gut geklungen, entpuppt sich irgendwann als Trugschluss. Die Illusion ist wie eine Zwilligschwester der Vision. Manchmal ist es schwer, die eine von der anderen zu unterscheiden. Auch aus einem Irrweg wird ein Weg, und manche Illusion wird zum Ausgangspunkt für echte Visionen. Wie brauchen also beide, damit Veränderungen Kreise ziehen können.

Der Wecker klingelt um 6 Uhr, wie jeden Morgen. Badgeschäft. Frühstück. Die Nachrichten aus dem Radio verkünden eine Polizeimeldung. Einbruch in einem Einfamilienhaus. Weiterhin schwere Kämpfe in Syrien. Hungerkatastrophe in Afrika … Die Arbeit ruft. Kollegenplauderei und Tratsch. Telefonate und lesen im E-Mailpostfach. Schreiben, wieder Gespräche, Mittagspause. Anschließend setzt sich fort, was schon am Vormittag war. Der Feierabend beginnt gegen 17 Uhr. Es warten ein Einkauf und ein Elternbesuch. Das Abendessen steht auf dem Tisch als die Tagesschausprecherin den Innenminister zur Sicherheitslage befragt. Ein Blick ins Soziale Netzwerk. Hier ploppen lustige Videos auf und Sprüche, die verheißen, wie das Leben wunderbar würde. Für die Szenerie eines Krimis fehlt die Konzentration. Nach wenigen Seiten Romanlektüre streiken die Augen. Das Verlangen nach Schlaf ist größer als das nach Geschichten …

Alltag – unspektakulär und visionsfrei. Doch schimmert in der Tiefe der Seele Hoffnung. Leichter, besser, friedlicher – die Welt sollte anders sein. Ein Menschheitstraum. Es gibt diese wundervollen Visionen. Doch wo finden sie in die Wirklichkeit? Junge Menschen diskutieren sich die Köpfe heiß. Sie haben manche Ungerechtigkeit auf dem Planeten erkannt, und sie fühlen sich angetrieben, diese zu überwinden. Den Schrecken des Hunger auf der Südhalbkugel der Erde muss man doch ein Ende setzen. Ressourcen und Möglichkeiten seien doch da, sagen die einen. Generationen vor ihnen hatten dieselbe Hoffnung. Das Kriegsgreuel soll endlich aufhören. Der Mensch will doch in Frieden leben. Und doch greifen immer wieder welche nach den Waffen und besorgen sich gegenseitig einen gewaltsamen Tod. Die Vision für ein friedliches Leben trägt die Menschheit seit Jahrtausenden. Bisher blieb der Wunsch eine schöne Illusion. Was wir im Kleinen wollen, erfüllt sich im Großen nicht. Auch andere große Visionen, die den Planeten beispielsweise für den Erhalt von Umwelt und natürlichen Ressourcen umspannen sollten, erweisen sich immer wieder als Trugbilder.

Was einer allein als nützlich und zukunftsweisend erkennt, ist für andere das genaue Gegenteil. Dass eine Idee alle ergreifen könnte und sie von jeder oder jedem im Gleichklang mitgesungen würde, erscheint als Illusion. Es bewegt die Frage: Man wird doch noch träumen dürfen? Man darf. Jedoch man darf sich der Realität nicht verschließen, die schneller Grenzen zieht, als es Menschen mitunter lieb ist. Die bedeutendsten Philosophen haben noch immer kein abschließendes Konzept geschrieben, wie ein friedliches, freies Wirtschaften und gesellschaftliches, religiöses Leben im Einklang mit den Grundfesten natürlicher Bedingungen funktionieren sollte.

Die Vision des Kommunismus sollte einst eine Antwort auf vorhersehbare Auswüchse kapitalistischer Wirkmechanismen geben. Inzwischen wandeln 7,4 Milliarden Menschen auf den Kontinenten. Jeder Erdenbürger blickt mit Hoffnung ins Leben und will in selbigem etwas aufbauen und etwas erreichen. Können 7,4 Milliarden Wünsche wirklich mit den Visionen zu Natur- und Umweltschutz Schritt halten?

Man möchte frohen Mutes rufen: Die Wissenschaft hat noch immer neue Wege eröffnet. Und gleichsam kommt irgendwann eine Kehrseite mancher Entdeckung ans Licht. Der Druck, den die Menschheit auf natürliche Systeme und sich selbst ausübt, hat vielleicht längst eine Potenzialität erreicht, unter der die kühnsten Träume fürs Überleben der Gattung Mensch ausgeträumt sind. Man mag den Gedanken verdrängen, doch ganz ausmerzen lässt er sich nicht. Außerdem gibt es doch jetzt die zauberhafte Welt der Digitalisierung. Alle Hoffnung richtet sich auf eine Technologieentwicklung, von der niemand wirklich behaupten dürfte, wohin diese führte. Einzelne Komponenten – Programme und Computer – lassen sich überblicken. Aber wie sich 7,4 Milliarden Menschen oder sei es nur die Hälfte damit und darin umgingen, bleibt eine Tabula rasa.

Werfen wir doch einen tieferen Blick in die Onlinewelten: Sie vernetzen Menschen und schenken ihnen die Möglichkeit, sich über jede Entfernung auszutauschen, Wissen wird zugänglich, Informationen verbreiten sich in wahnwitziger Geschwindigkeit. Doch führt die weltumspannende Vernetzung auch tatsächlich mehr zusammen? Wächst ein Verständnis füreinander? Oder muss man nicht gleichzeitig darauf verweisen, dass Konflikte zwischen Individuen entstehen, die vormals nie entstanden wären. Menschen entwic-keln gegenseitig Hass und Abneigung. Im Analog-Zeitalter wären solche Auswüchse bar nicht möglich gewesen. Je größer und unübersichtlicher ein System aufgrund wachsender Teilnehmer wird, umso mehr Einfallstore, Störanfälligkeiten und Verschleierungsmöglichkeiten finden Scharlatane und Bösewichter. Was, wenn es dereinst zu einem flächendeckenden Netzausfall kommt? Glaubt in der Tat jemand, Milliarden Onlinenutzer ließen sich steuern, belehren und kontrollieren. Von einzelnen Menschen sicher nicht. Doch wohin sollte die digitale Zukunft für den Homo sapiens steuern, wenn Bewertungen, Maßstäbe und Kontrolle bis hin zu Sanktionen von einer selbstlernenden künstlichen Intelligenz vorgenommen würden?

Noch ein Blick auf den Zauber politischer Proklamationen, in denen oft die Vision von „den Menschen in der einen Welt“ ausgerufen werden. Doch plötzlich sind aus noch gestern geglaubten Partnern heute Gegner geworden. Die Brille, die wir aus eigenen Vorstellungen tragen, sieht nur mit eigenen Augen, nie mit denen eines anderen, schon gar nicht mit denen eines Menschen, der aus ganz anderen kulturellen, wirtschaftlichen, religiösen und sozialen Wurzeln entspringt. Sortiert sich nicht die Vision über eine Gleichverteilung von Gerechtigkeit auf der Welt neu, mit jedem dazukommenden Individuum? Gerecht ist am Ende nur, was jeder selbstgerecht dafür hält.

Ist die Suche nach einer abschließenden Antwort, unter der sich die Welt, der Sinn des Lebens oder der Ursprung des Universums erklären könnte nicht doch eher eine Illusion als eine Vision. Wäre eine solche Antwort nicht letztlich das Ende aller Fragen? Und wenn es keine Antworten mehr gäbe, was sollte dann noch sinnstiftend sein? Daraus dürfte man schlussfolgern, dass allein die Suche eine illusionäre Vision ist. Aber eben auch, dass allein die Endlosigkeit von Fragestellungen das Fundament bereitet, auf dem der Sinn des Lebens von Menschen fortschreitend gesucht werden kann. Den einen Sinn, die alles umfassende Gewissheit kann es nicht geben. Einzig die Ungewissheit über das eigene Schicksal oder das von vielen ist der Nährboden für jede Vision. Auf dem Anerkenntnis dieser Art Einsicht baut jeder Mensch ein eigenes Leben und gestaltet er seine Individualität. Für alle oder gar nur viele denken oder sprechen zu können, ist weniger Vision denn Illusion.

Eine Idee entspringt immer noch einem Kopf. Andere schließen sich den Gedanken an, viele verhelfen einer Idee zum Durchbruch in die Wirklichkeit. Ja, von Visionen dürfen wir nie die Finger lassen. Doch der Verstand muss ihre Kehrseiten sehen können.

Mark Zuckerberg hatte diese schöne Vision für ein soziales Netzwerk. Wirklichkeit wird es nur durch die mittlerweile bald zwei Milliarden Menschen, die sich regelmäßig darin tummeln. Mancher mag den Reichtum, den Zuckerberg dadurch erzielte neiden. Aber reich wurde und bleibt er nur durch die Verweildauer vieler. Nicht Facebook verändert den Alltag, sondern jeder selbst, der seine Lebenszeit dort verbringt und den eigenen kleinen Nutzen daraus definiert. Medienunternehmen hoffen noch immer, dass sie von dieser Plattform wirtschaftlich profitieren könnten, weil sie doch Inhalte dafür produzieren. Doch eine Information ist doch nur gleichbedeutend mit einer anderen und sei diese noch so banal.

… Im Alltag stecken mehr Visionen als man glaubt. Erscheint er auch noch so grau und trüb – es ist die kleine Idee, heute etwas anders zu machen als gestern. So wie ein Mensch mit einer Vision viele bewegen kann, sind es die winzigen Episoden, die neue Wege aufzeigen. Man muss das Leben nicht neu erfinden und keinen noch so vermeintlich großen Ideen hinterherlaufen, um ein Visionär in der eigenen Haut zu sein. Das Morgen ist so ungewiss wie das Gestern noch vorgestern erschien. Und morgen braucht es eine Vision für übermorgen. Das ist keine Illusion. Thomas Wischnewski

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