Verirrt im digitalen Dschungel
Frühmorgens klingelt der Wecker. Mit dem Gesicht noch im Kissen fischt Sina nach ihrem Handy, um den nervtötenden Ton abzustellen. Ihr iPhone zeigt in grellen Zahlen die Uhrzeit an: 6 Uhr 30. Außerdem eine Meldung von Facebook, mit dem freundlichen Hinweis, dass heute zwei ihrer Freunde Geburtstag haben, denen sie doch gratulieren soll. Zwei Leute, die sie nur flüchtig kennt und gerade einmal im Jahr zur weihnachtlichen Dorfdisko trifft. Trotzdem öffnet sie die App und klatscht zwei unpersönliche „Happy Birthdays“ auf die Pinnwände der Online-Freunde. Trotz der Zeit quält Sina sich aus dem Bett, das sich morgens immer am schönsten anfühlt, als würde es einen festhalten wollen. Sie sitzt noch weitere fünf Minuten auf der Bettkante und versucht, einen klaren Blick zu bekommen. Sina schaut auf den Stapel Kleidung auf ihrem Stuhl und überlegt sich bereits eine Kombination für den Schultag. Sie entsperrt das Telefon in ihrer rechten Hand mit ihrem Daumenabdruck und wischt auf dem Bildschirm nach links, öffnet die Wetter-App. Bis zu 27 Grad sollen es heute werden, also kurze Hosen. Sie sperrt das Handy wieder.
Auf dem Weg ins Badezimmer spielt Sina die „Good Morning“ Playlist in ihrem Spotify-Account, das hilft beim Wachwerden. Mit einer Daumenbewegung öffnet sie WhatsApp und schreibt in die Gruppe mit ihren zwei besten Freundinnen eine Nachricht: „Schon eine Idee, was ihr heute anzieht?“ Nur Sekunden später noch eine hinterher: „Schreiben wir heute Bio ???“ Die 17-Jährige putzt ihre Zähne, wäscht das Gesicht und bindet die Haare nach einem YouTube-Video zu einer raffinierten Flechtfrisur. Zwanzig Minuten hat sie gebraucht und schlendert zur Musik aus dem Telefon zurück in ihr Zimmer. Ihre Freundinnen haben Bilder von Outfits geschickt, für die sie sich entschieden haben. Beide tragen lange enge Hosen und dazu ein Top. Also entscheidet sie sich gegen die kurze Variante und zieht einen Overall an. Sina fragt sich plötzlich wie spät es ist, weil sie bereits etwas zu lange ihrer Lieblingsmusik lauschen konnte. So verliert sie jeden Morgen bestimmt zehn Minuten! Das Handy sagt 7:15. Das wird knapp. Noch ein kurzer Blick in die App verrät ihr, dass sie den Bus tatsächlich nicht mehr bekommen wird. Was soll’s, dann also mit dem Fahrrad. Sie flitzt in die Garage und noch während sie das Rad zur Straße schiebt, schaut sie noch einmal in die WhatsApp Gruppe. Was ist denn nun mit Bio? „Ja, der Test ist heute 5. Stunde.“ Mist. Sie radelt nur knappe zehn Minuten zur Schule, aber stolpert trotzdem nur noch mit dem Klingeln in den Unterricht. Erste Stunde am Montag Mathe beim Direktor und dann auch noch zu spät. Der Kandidat erhält 100 Punkte!
Sina murmelt nur ein kleinlautes „‘Tschuldigung“ als sie ihr Handy in die Tasche gleiten lässt und sich durch die Bänke zu ihrem Platz schiebt. Integralrechnung. Wann hat das eigentlich angefangen, dass sich die Buchstaben unter die Zahlen gemischt haben? Das war ganz sicher der Moment, ab dem alles schiefgelaufen ist. Zumindest für Sinas Mathezensur. In den folgenden Minuten kann sie sich nur schlecht konzentrieren. Heute wird Kylie Jenner auf ihrem Instagram Account ein Video zu den neuen Produkten hochladen, die im nächsten Monat rauskommen werden. Wer Bescheid weiß und etwas auf sich hält, muss dieses Video sofort sehen. Mit Zeitumstellung sollte es in knapp drei Stunden soweit sein. Sina hat sich dafür extra einen Eintrag in ihrem Kalender gemacht – im Handy versteht sich. Während die Bemühungen des Lehrers, seiner Klasse den Zusammenhang zwischen den Zahlen und Buchstaben beizubringen, bei den meisten nur noch ein Rauschen im Hintergrund ist, erleuchten stellenweise immer wieder Handybildschirme unter den Tischen und in den Rucksäcken wie „beim Fischen nach einem Taschentuch“. Sina schaut immer wieder auf ihr iPhone, um nach der Uhrzeit zu schauen. Die Uhr an der Wand existiert für sie gar nicht und die Frage, ob sie ein analoges Ziffernblatt überhaupt lesen kann, mag berechtigt sein. Nur noch sechs Minuten bis zur Pause. Sie öffnet vorsichtig WhatsApp auf dem Telefon. Vom Direktor sollte man sich dabei lieber nicht erwischen lassen. Kurz unter der Mädels Gruppe ist der Chat mit ihrem besten Freund. Die beiden kennen sich schon, seit sie vier Jahre alt sind und fuhren früher noch mit dem Roller zueinander nach Hause, um zu fragen, ob der andere Zeit zum Spielen hat. „Treffen wir uns in der Pause am Bäcker?“, schreibt sie. „Ich versteh die Frage nicht :P“, lautet die Antwort.
Das Klingeln und die Bemerkung des Mathelehrers über ihre Unaufmerksamkeit im Unterricht überschneiden sich. „Nicht heute, Satan“, denkt Sina sich nur heimlich, als sie ihren Block und den Kuli schnell in ihren Rucksack wirft und den Raum verlässt. Als sie die Treppe zum Geografiraum hochläuft, schaut sie auf ihren Bildschirm und checkt erneut die Zeit. Einfach so, und hat sie schon wieder vergessen, als der Bildschirm wieder dunkel wird. Ein weiterer schneller Blick, 8 Uhr 13. Jemand rempelt sie an der Schulter an, beide murmeln ein flüchtiges „sorry“. Der andere Typ hat auch auf sein Handy geschaut. Noch gar nicht im Raum, vibriert ihr Telefon erneut. Es ist eine besondere Nachricht. Ein breites Lächeln legt sich auf ihr Gesicht, nur für einen Bruchteil. Sina wirft ihren Rucksack auf ihren Platz im neuen Raum und geht dann über die Straße zum Bäcker. Sie wartet fast sieben Minuten auf Robin, der sich – während er sich eine Zigarette dreht – mit einem Gespräch bei der stellvertretenden Schulleiterin entschuldigt. „Es gab etwas Stress wegen meiner Fehlstunden.“, brabbelt er über den Tabak hinweg und rollt das Papier zusammen. „Was musst du auch immer bis in die Nacht zocken. Ist klar, dass du dann morgens nie rauskommst.“
Sinas Ratschlag war nichts Neues oder hilfreich, deshalb zuckt Robin nur mit den Schultern, als er sein Smartphone aus der Hosentasche zieht und ein Foto von seinen Schuhen macht. „Deine neuen Nikes sind echt nice“, erkennt sie und hilft ihrem Freund dabei, den passenden Filter für sein Instagram Posting auszuwählen. In der Schlange beim Bäcker blicken die beiden alle 30 Sekunden nervös auf ihre Smartphones. Sina erwartet noch eine Nachricht, Robin checkt die steigende Anzahl der Likes auf sein neues Bild und beide macht die Tatsache unruhig, dass bis zum nächsten Klingeln nur noch vier Minuten bleiben. Das belegte Brötchen gibt’s auf die Hand und wird beim Gehen über die Straße und Hechten in den ersten Stock verschlungen. Mit vollem Mund sagt Robin: „Ich schreib dir nachher.“ Sina winkt nickend ab und sieht gerade als es klingelt, wie aus der 9 eine 0 auf dem Bildschirm wird. Schon wieder zu spät. Macht aber nichts, Frau Marquard ist ohnehin immer ein paar Minuten drüber. Heute sind es nur zwei. Die Lehrerin stolpert – die Arme voller kopierter Arbeitsblätter – in den Raum und wirkt sichtlich gestresst. „So Leute, Handys weg, ich brauche jetzt eure volle Aufmerksamkeit. Ich muss heute etwas früher los, deshalb bekommt ihr Aufgaben, die wir beim nächsten Mal durchgehen. Nehmt das zu eurem eigenen Wohl ernst, vor allem diejenigen, die in Geografie Abi machen wollen.“
Die Papierstapel gehen mit einem Raunen durch die Reihen und sorgen für gute zehn Minuten Chaos. Zehn Minuten, in denen unter den Tischen Likes gezählt, Sportergebnisse nachgeschlagen, Klatsch diskutiert und Beziehungen beendet werden. Als Frau Marquard die Aufgaben erklärt und noch gute 20 Minuten Unterricht gemacht hat, gilt für die Klasse die Stunde als beendet. Hinter der Lehrerin schließt sich die Tür und im Raum ist kaum an die blöden Aufgaben zu denken. Wozu? Hinter den Bildschirmen verbirgt sich nicht nur jede Antwort, sondern auch alles andere. Gelangweilt vom heimischen Kaff? Nimm dein Handy und buche einen Flug! Keine Inspiration für die neue Inneneinrichtung? Such auf Pinterest! Du willst Schlumpf-Videos von 2004 mit Auto-Tune in der Stimme schauen, bekommen oder die Galerie anderer Leute damit verstopfen? Nimm dein Smartphone und leg los!
Die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt. Jeder kann offenbar alles sofort von wo immer er auch ist, erfahren, verschicken und speichern. Sicher gehört zu Jugendlichen der Drang danach, nichts zu verpassen. Und es wird ihnen unterstellt, sie hingen ausschließlich am Handy. Da mag durchaus etwas dran sein. Ihnen deshalb eine gewisse Dummheit zu unterstellen, ist ein Vorurteil. Dass im Digital-Dschungel nichts mehr privat ist, wissen junge Leute meist besser als deren Eltern oder gar Großeltern. Für wirklich heikle Themen oder richtig pikante Infos gilt unter Jugendlichen noch immer das persönliche Gespräch als Geheimwaffe. Swantje Langwisch