StadtMensch: Recht auf Irrtum

In den letzten Jahren kommt uns ein wichtiges Recht immer mehr abhanden. Es ist kein gesetzlich verbrieftes, aber ein Naturrecht, das Recht auf Irrtum. Nur der Irrtum brachte uns weiter. Irgendwer probierte ein neues Nahrungsmittel und wenn er sich irrte, dann überlebte er diesen Irrtum schlimmstenfalls nicht, gab damit aber immer noch ein gutes Beispiel für die Überlebenden ab. Im besten Fall spuckte er aus und verzog angeekelt das Gesicht, was den anderen ebenfalls half. Und so entwickelten wir uns. Kolumbus dachte, er hätte den Seeweg nach Indien entdeckt, aber er hatte sich gleichzeitig ge- und verirrt und trotzdem etwas Neues entdeckt. Der Schimmel auf einem misslungenen Experiment ermöglichte die Entdeckung des Penicillins. Jede Wissenschaft beruht auf Irrtümern, die, korrigiert, zu einer wertvollen Innovation führen können. Wir lernen aus Fehlern, eine Binsenweisheit, aber nichts-destotrotz wahr, denn das ist stets unsere Überlebensstrategie gewesen. Doch allmählich beginnt sich hier etwas zu verändern. Immer öfter wird ein Irrtum nicht als normaler Teil eines jeden Lebens begriffen, als Fehler, der korrigiert werden könnte, sondern stattdessen sogar als unentschuldbarer Makel angesehen.

Das beginnt im normalen Gespräch und endet in der Weltpolitik. Nehmen wir nur den Brexit. Jedem Menschen, der einigermaßen ideologiefrei darüber nachdenkt, wird relativ rasch klar, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Irrtum war, dessen Konsequenzen damals kaum jemand realistisch einzuschätzen vermochte. Aber so etwas kann niemand der dafür verantwortlichen Politiker öffentlich zugeben, ohne sein Gesicht zu verlieren. Und je autokratischer (und selbstverliebter) dieser Verantwortliche, um so abstruser werden die Versuche, die einmal getroffene Entscheidung weiterhin aufrecht zu erhalten. Würde Boris Johnson den Irrtum eingestehen, stünde er nicht als intelligenter Staatsmann da, der einen Fehler korrigiert, sondern als klarer Verlierer. Das kann so weit führen, dass ein amerikanischer Präsident mit Filzstift eine Wetterkarte handschriftlich korrigiert, weil er öffentlich ein Gebiet als von einem Wirbelsturm betroffen benannt hatte, welches aber eigentlich nicht in der von Meteorologen berechneten Sturmzone lag. Es wäre leicht gewesen, diesen kleinen Irrtum einzugestehen, aber auch hier stand ein möglicher Gesichtsverlust im Raum. Die Presse hätte sich lustig gemacht, was sie nun ja trotz oder gerade wegen der dilettantischen Filzstiftkorrektur ohnehin tat. Dieser an sich winzige Fehler wird auf einmal riesig und im Fokus der Aufmerksamkeit immer größer, bis er ein Eigenleben zu gewinnen beginnt, bei dem alle Beteiligten verlieren. Denn der Autoritätsverlust durch diese Unwichtigkeit kann so groß werden, dass die Kompetenz grundlegend in Frage gestellt wird. Im nächsten Fall geht es dann möglicherweise um wirklich große, global relevante Fehler, die vielleicht erkannt, aber eben nicht korrigiert, sondern erst recht zu (gerne auch alternativlosen) Wahrheiten erklärt werden.

Dazu kommt im Internet dann noch die Filterblase, mit der sich alles herausfiltern lässt, was der eigenen Ansicht entgegensteht. In Platos Höhlengleichnis können die gefesselten Menschen nur Schatten sehen, ein entferntes Bild der wirklichen Realität. Würde ihnen die reale Welt gezeigt, könnten und wollten sie diese nicht akzeptieren. Der Irrtum wird hier zum permanenten Zustand. Wird man nun mit einer anderen, abweichenden Sichtweise konfrontiert, ist diese, egal ob richtig oder falsch, nicht mehr kompatibel mit der eigenen, beschränkten Sicht. Es geht nicht mehr darum zu überlegen, ob sie richtig sein könnte, denn das würde die gefühlt  absolute Realität irreparabel beschädigen. Einen Konsens zwischen unterschiedlichen Positionen herzustellen, ist unmöglich geworden, das Irrtumsverbot immanent. Wer anders denkt, passt nicht in das fertige Weltbild. Wer sich aber nicht mehr irren darf oder kann, setzt die eigene Position absolut. Wenn ein Filzstift notwendig ist, um sie durchzusetzen, dann ist das ja beinahe noch harmlos. Aber was geschieht, wenn man sich nur noch mit der Waffe zu helfen vermag? Wenn man glaubt, die andere Position nur noch durch ihre totale Auslöschung bewältigen zu können, dann entsteht Fanatismus. Und dieser sucht sich seinen Weg, der zwangsläufig irgendwann in Gewalt münden muss. Darum verbietet es sich auch, von Einzeltätern zu sprechen, die Amok laufen. So etwas gibt es nicht. Es sind nur die Spitzen eines lauernden Eisberges, der zum großen Teil nicht sichtbar, und gerade darum so gefährlich ist. So lange Politik und Gesellschaft vorleben, dass es bei einem Irrweg keine Umkehr geben kann oder darf, wird es diesen Fanatismus geben müssen.

Einfacher ausgedrückt: So lange es für alle Autofahrer ein unwidersprochener Konsens ist, dass Navigationsgeräte immer und unter allen Umständen den richtigen Weg anzeigen, so lange werden Autos in Flüssen landen. Kein Mensch traut sich mehr, nach dem Weg zu fragen, denn das Eingeständnis der Unsicherheit beziehungsweise des möglichen Irrtums ist ein Zeichen der Schwäche, welche sich niemand mehr offen zu zeigen traut. Küchenphilosophie? Gewiss, aber erst wenn wir wieder unsere scheinbar sichere Position (hinter)fragen und diese Unsicherheiten zulassen, dann entwickeln wir uns auch weiter. Vielleicht irren wir uns dabei, vielleicht irren sich auch die anderen, vielleicht irren wir uns gemeinsam, aber vielleicht auch nicht. Je unsicherer wir uns selber sind, umso sicherer wird die Welt. Denn wer weiß, dass er nichts weiß, der weiß genug, um anderen das Recht auf Irrtum nicht abzusprechen. Und der schießt auch nicht, wenn ich mich nicht irre. Lars Johansen

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