Sport 5.0

St. Petersburg, Russland, 28. Oktober 2017: EPICENTER-Gegenschlag: Globales offensives Cyber-Sportereignis. Hauptort und die großen Leinwände im Mittelpunkt der Bühne. Foto: Roman Kosolapov

Die digitale Sportwelt – etwas Vertrautes könnte aus den Angeln gehoben werden. eSports heißt die Zukunft. Die Frage lautet: Ist das noch Sport?

Wir schreiben den 28. Mai 2034. Spannung allenthalben, es ist der Finaltag um die deutsche Fußballmeisterschaft. Borussia Dortmund versus Bayern München lautet die Ansetzung. Ein Klassiker, richtig. Das ist aber fast schon das einzige, was an frühere Duelle erinnert. Nichts da mehr mit Rasen und darauf 22 Akteure. Im Berliner Olympiastadion erstrecken sich dort, wo sich einst das grüne Spielfeld befand, unzählige Sitzreihen. Unter dem die gesamte Arena überspannendem  Dach des mittlerweile 100.000 Zuschauer fassenden Stadions haben sie Mega-Bildschirme montiert, dreidimensional natürlich und in 12-K-Bildauflösung. Dorthin sind fasziniert alle Blicke gerichtet.

Echte Fußballer, so richtig mit Stollenschuhen und einem Ball, oder gar einen Schiedsrichter, das braucht es bei diesem Event längst nicht mehr. Auf Super-Monitoren steuern zwei Spieler-Teams über hämmernde Tastenberührungen die virtuellen Borussen und Bayern, die sich wie riesige Trickfilm-Figuren elegant übers Spielfeld bewegen. Was wir hier vor uns haben, ist elektronischer Sport (kurz eSports genannt) in seiner bis dahin höchsten Vollendung.

Eine erschreckende Vision? Vielleicht nur Science Fiction in Reinkultur? Oder nicht mehr als das Szenario eines durchgeknallten Technik-Freaks? Nicht unbedingt. Wenn sich das fortsetzt, was eSports 2017 verheißt, dann sind wir von solchen Zukunftsbildern wahrscheinlich nicht mehr allzu weit entfernt. Die Vorstellungen und Fantasien, die einst der wundersam reichen Gedankenwelt eines  Jules Verne entsprangen, sie erscheinen dagegen tatsächlich als harmloser Kinderkram.

Unübersehbar bleibt: Die Digitalisierung ist im Kosmos des Sports längst angekommen. eSports, dieser kleine, sehr professionelle Bereich der Computerspielszene – der vor nicht einmal 20 Jahren erst das Licht der Welt erblickte – ist heute ein Multi-Millionen-Dollar-Geschäft. Es herrscht Goldgräberstimmung. Wir sind Zeugen, wie eine scheinbar komplett neue Sportart entsteht. Die Gretchen-Frage lautet nur: Handelt es sich tatsächlich um Sport im althergebrachten Sinne, wenn die Generation der Digital Natives da auf ihren hypermodernen Geräten in atemberaubender Geschwindigkeit herumtrommelt? Dazu später mehr.

Elektronisches Wetteifern miteinander, das bleibt festzuhalten, ist schon heute der größte Wachstumsmarkt des Sports überhaupt. Nicht Fußball, nicht Basketball, nicht Handball. Es sind beeindru-ckende Zahlen, die die Verantwortlichen des E-sports da vorlegen: Bis 2022 wird sich der weltweite Umsatz der virtuellen Wettkämpfe von aktuell 890 Millionen Euro auf 4,8 Milliarden erhöhen. 270 Millionen Menschen verfolgen die Turniere jetzt schon regelmäßig, in drei Jahren – so die Prognosen – soll sich diese Zahl auf 500 Millionen fast verdoppeln. In den USA werden Top-Events im eSports bereits aufgezogen wie die legendären Super-Bowl-Shows  des American Football. Ähnlich herkömmlicher Leibesübungen konkurrieren eSportler in Ligen und bei Turnieren miteinander. Für den unbedarften Technikfeind völlig unbegreiflich: Es sind mittlerweile Zehntausende, die jungen Menschen beim öffentlichen Zocken zuschauen – und zahlen dafür sogar Eintritt. In den oft ausverkauften Arenen herrscht eine Stimmung wie in Fußball-Bundesliga-Arenen.

Geht es allein nach deutschen Maßstäben, scheint – oberflächlich betrachtet – eSports bisher nicht viel mehr zu sein als eine Nischenangelegenheit. Eine Sache für Zocker eben. Aber das Bild ist trügerisch. Schon gibt es eine Reihe von Fußball-Bundesligisten wie Schalke 04, den VfL Wolfsburg, den VfB Stuttgart und RB Leipzig, die vom Trend profitieren wollen, eigene Teams aufstellen oder Spieler engagieren. Man will, ganz wichtig, die Entwicklung nicht verschlafen. Es winken neue Fans und, eventuell noch wichtiger, neue Einnahmemöglichkeiten.

Lunte gerochen hat ebenso das Internationale Olympische Komitee. Das sonst so konservativ ausgerichtete IOC besaß schon immer eine gute Nase, wenn es darum geht, zusätzliche Einnahmemöglichkeiten zu wittern. Dessen Präsident, der Deutsche Thomas Bach, hält es deshalb nicht für ausgeschlossen, dass eines Tages eSports-Disziplinen im Olympischen Programm auftauchen. Allerdings erteilt er gewalthaltigen Spielen eine Absage. Kontrollen von Doping und möglicher Technik-Manipulationen müssten laut Bach gewährleistet sein. Die Asien-Spiele 2022 haben den elektronischen Neuling bereits fest in ihr Programm aufgenommen. Erstaunlich aufgeschlossen gegenüber eSports zeigt sich die Wissenschaft. Prof. Thomas Horky, einer der führenden deutschen Medienwissenschaftler für Sportjournalismus, erklärt: „Ich halte es für möglich, dass die Stars der Szene einen Bekanntheitsgrad wie Ronaldo oder Messi erreichen – wenn sie ihn nicht schon haben – außerhalb der traditionellen Medien.“ Er sei schon der Ansicht, meint Prof. Ingo Froböse, einer der führenden Köpfe von der Deutschen Sporthochschule in Köln, dass es sich bei eSports um Sport handele - er fördere etwa feinmotorische Fähigkeiten und löse im Körper auch Reaktionen aus. Verglichen mit anderen Leistungssportarten hätten die Stars der Szene allerdings „noch viele professionelle Lücken". Das reiche von der Trainingsgestaltung bis zur Ernährung.

Joshua Begehr, Berater einer der führenden Agenturen für virtuellen Fußball, sagte dieser Tage der „Sport-Bild“: „eSports konkurriert zwar noch nicht mit den Zahlen der Fußball-Bundesliga, bedroht aber traditionelle deutsche Kernsportarten wie Basketball, Eishockey oder Handball in den Bereichen Zuschauer und Umsatz“. Dass es einmal zu den erfolgreichsten Sportarten der Welt gehören wird, ist für den Marketing-Profi nur eine Frage der Zeit.

Da ist es wieder, jenes Wort, an dem sich momentan die Geister wahrhaft scheiden: das Wort Sportart. Ist eSports, lautet die ebenso simple wie zentrale Frage, eine Sportart im herkömmlichen Sinne? Während es in Ländern wie den USA, in Südkorea, Frankreich und einigen skandinavischen Staaten offiziell als Sportart anerkannt ist, sträubt sich der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), eSports als Sport anzuerkennen. Wird den virtuellen Athleten jedoch weiterhin diese Anerkennung verweigert, bleibt ihnen die vor allem finanziell so wichtige Gemeinnützigkeit versagt.

Hauptgrund für die Zurückhaltung der DOSB-Platzhirsche: Es fehle dem Neuling sowohl die eigene sportartbestimmende motorische Aktivität als auch die Einhaltung ethischer Werte. Zudem entsprächen bestimmte Verbandsstrukturen nicht den Anforderungen des DOSB. Lassen wir jetzt mal den typischen Funktionärs-Sprech von den Strukturen beiseite, es ist schon was dran am Beharren auf Motorik als Wesensmerkmal des Sports. Sie erst, postulieren die Verteidiger der reinen Lehre, mache das Ursprüngliche des Sports aus. Denn die Freude an der Bewegung und die nicht hoch genug einzuschätzende soziale Komponente der traditionellen Leibesübungen gingen mit eSports und seiner engen Bindung an den Kommerz unweigerlich verloren.

Dazu vielleicht der Versuch eines Witzes. Julian wird von seinen Freunden gefragt, ob er Sport treibe. „Natürlich", antwortet der junge Mann, er spiele Hockey, fahre Ski, jogge und neulich habe er mit seiner Fußballmannschaft sogar einen Pokal gewonnen. „Wann findest du denn die Zeit für all die Sachen?", staunen die Freunde. Antwort: „Na, am Wochenende am PC." Zugegeben, der Biss fehlt hier ein wenig, das Problem umschreibt diese Episode dennoch einigermaßen treffend. Oder wie ein führender Sportfunktionär dieser Tage meinte: „eSports läuft letztlich darauf hinaus, dass ich nicht mehr sage: ich treibe Sport, sondern: ich lasse Sport treiben.“

Nicht wenige eSportler vergleichen sich mit Schachspielern. Und das königliche Spiel sei schließlich auch als Sport akzeptiert, bekräftigen sie. Gegenargument der Gralshüter: Schach sei eine historische Ausnahme, und obendrein sei das Brettspiel kein olympischer Sport! Konter der eSportler: Und wie sieht es mit Schießen aus, mit Bogenschießen? Da gebe es auch keine Bewegung im motorischen Sinne (ja, absolute Bewegungslosigkeit und Ruhe sind sogar besonders gefragt). Und trotzdem begehre niemand dagegen auf, seien diese Disziplinen seit Jahnzehnten fester Bestandteil des olympischen Programms.

Kurzum, die täglich stundenlang am Computer sitzenden Gamer sehen sich als Athleten. Diskussionen darüber halten sie übrigens für müßig. Und tatsächlich: eSportler hämmern bis zu sechs Mal pro Sekunde mit ihren Fingern asymmetrisch auf Tastatur und Computermaus ein, halten ihren Blick bis zu eine Stunde lang starr auf den Bildschirm gerichtet und kommunizieren dabei über Headset mit ihren Teamkollegen, um kommende Spielzüge abzusprechen. Als Ausgleich für das bei Spitzenleuten acht- bis zehnstündige Training pro Tag absolvieren viele von ihnen ein ausgeprägtes Athletikprogramm.

Und dennoch, für viele Alltagssportler ist es nach wie vor eine Horrorvorstellung, ein Volk von einst Aktiven nur noch vor dem Laptop diverse Tastenkombinationen drücken zu sehen. Vom verloren gegangenen Gesundheitsfaktor ganz zu schweigen. Kritiker monieren zudem die Tatsache, dass die Sucht nach leistungssteigernden Substanzen bei eSports (Ein Insider: „Die saufen dort Red Bull aus Eimern.“) ähnlich, wenn nicht sogar weiter verbreitet, ist als in vielen traditionellen Sportarten. Aufputschende Mittel wie Adderall und Ritalin oder auch Schmerzmittel, welche die teilweise chronischen Nacken- und Armschmerzen lindern, seien an der Tagesordnung, sagen Kenner der Szene. Fieser kleiner Nebengedanke: Sorgen die weltweit so agilen wie mächtigen Hacker vielleicht eines Tages dafür, dass die ganze schöne virtuelle Spielewelt wegen Manipulation und/oder Wettbewerbsverzerrung fast von selbst in sich zusammenbricht?

Andererseits, könnte man sarkastisch weiter fragen, kann eSports nicht ein Menge Probleme auf elegante Weise lösen? Uns geradezu paradiesischen Zeiten entgegenführen? Keine staatlichen Mittel mehr für den Sport, einen Rechner besitzt ohnehin jeder – und den bezahlt er auch noch selbst. Keine Unsummen mehr für Sportstätten, für neue nicht, und für die Erhaltung der bestehenden erst recht nicht. Keine ausufernden Reisekosten mehr für kleine Vereine – jeder sitzt schön zu Hause und wartet auf den imaginären Anpfiff aus dem Off.

Und Olympia erst: Einigte man sich auf Ringe-Spiele in elektronischer Version, müsste niemand mehr deren Gigantismus verteufeln. Keine ausufernden Kosten für Olympiabauten mehr, kein Umweltfrevel durch neue Kahlschläge an der Natur für Abfahrtshänge, Bobbahnen oder gigantische Eisstadien, keine Austragungsorte mehr, die Jahre nach Olympia den finanziellen Offenbarungseid  leisten müssen. Und die für die Politik oft peinlichen Bürgerentscheide, bei denen Einwohner umworbener Orte Olympia brüsk ablehnen, sie gehörten ebenso der Vergangenheit an. Olympia fände auf jedem Bildschirm statt; besser kann einem Pierre de Coubertin nun wirklich nicht gedacht werden. Klingt doch alles irgendwie klasse …

Genug der Träumerei, zurück in die harte Realität. Und da macht das Problem des eSports, Achtung: Wortspiel!, auch vor Sachsen-Anhalt nicht halt. Die hiesigen Gamer plagen dieselben Sorgen wie ihre Kameraden (existiert dieses Wort überhaupt unter Nerds?) anderswo in der Republik. Das gilt gleichermaßen für den 2016 gegründeten Verein „Magdeburg eSports“. Über 150 Mitglieder zählt er mittlerweile. Die Finanzämter würden ihnen die Gemeinnützigkeit absprechen, klagt Vorsitzender Martin Müller öffentlich. Das würde sich nur ändern, wenn eSports endlich als Sport anerkannt werden würde. Bis dahin wird es weiter nicht erlaubt sein, Spendenquittungen auszustellen oder an Förderprogrammen teilzunehmen. „Das macht uns das Leben schwer“, bedauert er.

Während sich hiesige Parteien mit Äußerungen noch diskret zurückhalten, bekennen sich als einzige die Grünen in Sachsen-Anhalt zu eSports und fordern dessen Anerkennung. „eSports gehört, als weitere Möglichkeit Sport zu treiben, die Zukunft“, erklärte ihr sportpolitischer Sprecher Sebastian Striegel. „Ich wünsche mir, dass wir diesen Zukunftstrend in Sachsen-Anhalt aufnehmen und gestalten.“  Andreas Silbersack, Präsident des Landessportbundes (LSB ), sagte Magdeburg Kompakt auf Anfrage: „Wir beobachten die Entwicklung ganz genau. Es gibt erste eingetragene Vereine auch in Sachsen-Anhalt. Ob sie gemäß unserer Satzung den Zielen und Grundsätzen zur Förderung des gemeinnützigen Sporttreibens gerecht werden, gilt es zu prüfen, wenn Vereine einen Antrag auf Mitgliedschaft bei uns stellen.“ Derzeit lägen dem LSB jedoch „keine Anträge von E-Sport betreibenden Vereinen auf Mitgliedschaft  vor.“

Ähnlich sieht es der Chef des Olympiastützpunktes Sachsen-Anhalt (OSP), Helmut Kurrat. Für ihn („Ich bin da eher der konservative Typ“) sei körperliche Betätigung nun einmal das alles entscheidende Kriterium für eine Definition des Sports. Bisher gebe es, fügt er hinzu, noch keinerlei Kontaktaufnahmen oder Anfragen seitens von eSports-Vereinen gegenüber dem OSP. Beim Fußball-Drittligisten1. FC Magdeburg habe man sich bislang nur teilweise mit dem Thema eSports auseinander gesetzt, beobachte jedoch die Entwicklung, sagte dessen Sprecher Norman Seidler auf Anfrage. eSports sei eine „neue Plattform, deren Aufbau wir mit Interesse verfolgen“. Für ihn ist allerdings klar: „Für den 1. FC Magdeburg sind nur Sportspiele interessant“. Eine spätere Kooperation mit E-sports-Vereinen schließt der FCM nicht grundsätzlich aus.

Also, ist eSports nun Sport oder nicht? Die Frage wird, wie bei vielen neuen Dingen, je nach Überzeugungen und Definitionen unterschiedlich beantwortet. Jeder meint, im Besitz der Wahrheit zu sein. Ein neutrales oberstes Gericht, eine Art CAS (internationaler Sportgerichtshof), das für einen weisen Urteilsspruch in Frage käme, existiert in dieser Sache nicht. Es bleibt also eine (noch) unbeantwortete Frage: Kommt es, vielleicht in einigen Jahren, zu einer Annäherung oder gar Verschmelzung mit den traditionellen Disziplinen? Oder verfestigt sich mit eSports eine eigene (Parallel)Welt des Sports? Rudi Bartlitz


Kompakt

eSports bezeichnet das wettkampfmäßige Spielen von Computer- und Videospielen. Es geschieht auf PC oder Konsole. Dazu zählen ebenso Renn- und Aktionsspiele. Die Akteure benötigen eine gut geschulte Hand-Augen-Koordination und taktisches Verständnis. Seinen Anfang nahm eSports zu Beginn der siebziger Jahre. Das Echtzeit-Strategiespiel League of Legends (LoL) ist heute das populärste Spiel weltweit. Es wird von 100 Millionen Menschen betrieben. Dahinter reihen sich Dota 2, Counter Strike, Call of Duty und die FIFA-Reihe (in der neuesten Version sogar mit Drittligavereinen) ein. 42 Prozent aller Deutschen beschäftigen sich derzeit regelmäßig mit Computer- und Videospielen, bei den 10- bis 18-Jährigen liegt der Anteil sogar bei 89 Prozent.

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