Späte Rache? Drei Reformatoren zieren drei Straßen in Sudenburg
1903 wurde im Magdeburger Stadtteil Sudenburg eine Straße nach Luthers engstem Freund und dem ersten evangelischen Superintendenten überhaupt, Nikolaus von Amsdorf, benannt. Da befand er sich in guter reformatorischer Gesellschaft, denn seit 1902 gab es hier die Lutherstraße und seit 1899 die Melanchthonstraße. Der Wormser Platz ist gleichfalls nicht einfach nach der Stadt, sondern natürlich nach dem dazugehörigen reformatorischen Ereignis benannt, Luthers Standhaftigkeit auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521. In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstand in Schneidersgarten dann auch noch die Lucas-Cranach-Straße. Die freilich weniger aus Gründen der Erinnerung an die Reformation, sondern vielmehr in Erinnerung an Cranachs Hauptberuf, die Malerei, zusammen mit der Dürer- und der Holbeinstraße. Insgesamt aber ein Stadtteil der Reformation also, der diese entsprechend würdigt, sollte man meinen. Die Reformationsgeschichte Sudenburgs ist freilich komplizierter. Luthers protestantische „Ruck-Predigt“ vom 24. Juni 1524 in der heutigen Wallonerkirche (damals die Kirche des Augustinerklosters) und deren Wiederholung zwei Tage später in der Johanniskirche, die letztlich dazu führte, dass der Rat auf Druck der Bevölkerung die Reformation in Magdeburg gestatten musste, beeindruckte im damals noch selbständigen Sudenburg wenig.
Greve Köppen, oder Johann Grawert, vordem Mönch in Helmstedt, kam 1524 nach Sudenburg, predigte dort, fand eine Hörerschar. Doch Sudenburg blieb zweigeteilt. Als in Magdeburg die Reformation eingeführt wurde, entschied sich Sudenburg, vor allem der nördliche Teil des Ortes in welchem die Domherrensiedlung lag, mehrheitlich gegen die Reformation. Grawerts Wirkungsstätte als derjenige, der für die Reformation in seinen Predigten war, war der südliche Teil Sudenburgs um St. Michaelis. Erst 1544 erhielt die Sudenburg in der damaligen Ambrosiuskirche ihren ersten evangelischen Pfarrer, Joachim Woltersdorf. 1580 unterzeichneten er, der Neustädter Pfarrer Heinrich Gerken (die Neustadt wurde erst drei Jahre nach Sudenburg protestantisch) und die Altstadt-Pfarrer die Magdeburger Confessio. Die drei Städte, die weit später zu einer Stadt zusammenwuchsen, einigten sich, darum war die Union auch existentiell wichtig, im Vor- und Umfeld des Schmalkaldischen Krieges (1546-1547). Die Bürger der Neustadt und Sudenburgs huldigten dem Magdeburger Rat und brachten das Wappen der Altstadt an ihren Toren an. Die Dreistadt galt nun als eine Handlungsgemeinschaft auf protestantischer Seite.
Blenden wir noch mal zurück auf die Stadt der Reformation, wo mit oder ohne Hammerschlag an der Tür der Schlosskirche (Anbringung der 95 Thesen) – es sprechen mehr Argumente dafür, dass die Thesen tatsächlich an der Schlosstür hingen, freilich kamen sie erst nach Druck im Buchformat zu ihrer Volkstümlichkeit – am 31. Oktober 1517 (dem Tag der Versendung der Thesen an Luthers Fürsten), die Reformation begann:
Ein Dreigestirn, das man heute wohl einer Marketingagentur gleichsetzen würde, bestimmte in Wittenberg den Lauf der Dinge: Der kreative Kopf der Reformationsagentur war der aus dem Mansfeldischen stammende Martin Luder, der sich nach dem latinisierten, aus dem spätgriechischen stammenden Eleutherius, nun programmatisch Luther schrieb, als Hinweis darauf, dass er sich, aus Gottes Gnaden allein lebend, befreit fühlte. Sein sprachmächtiges Schriftwerk, aber auch seine Bibelübersetzung, trieb die Reformation an. Der aus dem Fränkischen in das (nach Luther) Nest am Rande der Zivilisation, also Wittenberg, hinzugezogene Philipp Melanchthon (Schwarzerdt) war dabei so etwas wie der alles etwas in Samt verpackende Vertriebschef der Agentur, der in zähen Verhandlungen versuchte, die Inhalte der Reformation portionsweise deren Gegnern schmackhaft zu machen. Der Gestalter der Reformation, zugleich nahm er als Maler die Rolle des heutigen Fotografen ein, der Multiplikator, der mit seinen Flugblättern deutschlandweit Luthers Gedankenblitzen Öffentlichkeit verschaffte, war ebenfalls ein Franke, Lucas Cranach d. Ä. Die Reformation, darauf sei auch einmal verwiesen, war ein deutsch-deutsches Gemeinschaftswerk, auch wenn man damals natürlich noch keine Ahnung von einer späteren Zweiteilung des Landes haben konnte. Zwei Franken und ein Mitteldeutscher waren führend daran beteiligt.
Nun fehlt in dieser Dreierkonstellation einer, der nicht unwichtig für die Ausbreitung der Reformation war. Einer, der ein ähnlich hitziges Temperament wie sein bester Freund Martinus hatte, dem der feine Melanchthon viel zu diplomatisch war, einer der durchaus auch auf Streit aus war, draufhieb, sicher um der Sache willen, aber sich auch die Person nicht schonend, einer, dem Diplomatie nicht nur fremd, sondern geradezu Verrat ist, also einer wie gemalt für die Stadt Magdeburg. Es kann gar nicht wundern, dass Luther Nikolaus von Amsdorf (1483-1565) 1524 als ersten evangelischen Superintendenten überhaupt für Magdeburg vorschlug und Amsdorf zugleich Pfarrer an der St.-Ulrichs-Kirche wurde. Kurfürst Friedrich der Weise muss ein Interesse daran gehabt haben, dass Magdeburg protestantisch wird. Er stimmte für Amsdorfs Entsendung nach Magdeburg für ein Jahr und übernahm, wie vom Magdeburger Rat vorgeschlagen, für dieses Jahr das Gehalt, das Amsdorf am Wittenberger Allerheiligenstift bezog. Freilich knüpfte der Kurfürst die Bedingung daran, dass sich Amsdorf um einen geordneten Ablauf der Magdeburger Reformation kümmere.
Der in Torgau geborene von Amsdorf besuchte die Thomasschule in Leipzig, studierte an der Leipziger Universität, ging 1502 an die junge Wittenberger Universität, wo er 1510 Dekan der Philosophischen Fakultät wurde. Um das Jahr 1513 lernte er Luther und nach und nach den Kreis der künftigen Reformatoren kennen. Amsdorf war mit Luther in Worms, arbeitete auf der Wartburg an der Übersetzung der Bibel mit. Seiner Heftigkeit entsprach auch ein Hang zur Radikalität, der ihn zeitweise in die Nähe der Wittenberger Bilderstürmer zog. Vermutlich deshalb der oben erwähnte ausdrückliche Hinweis seines Landesfürsten um die geordnete Einführung. Er sorgte für die Einführung der von Luther konzipierten Gottesdienstordnung statt der Messe, focht gegen altgläubige, aber auch gegen schwarmgeisterische Prediger, die zugleich mit der katholischen Ordnung auch die gesellschaftliche stürzen wollten. In Amsdorfs Amtszeit wurde auch die Neue Lateinschule eingerichtet, die der Wittenberger Reformator Caspar Cruziger . d. Ä. leitete. Amsdorf blieb bis 1542 in Magdeburg.
Magdeburg blieb ihm ein Lieblingsort. Nur ungern zog er weiter, als er, wiederum als erster, evangelischer Bischof zu Naumburg-Zeitz werden sollte. Hier freilich musste er, gezwungen durch den Ausgang des Schmalkaldischen Krieges, bald seinen Sitz verlassen und floh letztendlich wieder nach Magdeburg zurück. Nicht zuletzt unter seiner Führung wurde Magdeburg zu einem Zentrum des Widerstands gegen die Religionspolitik Kaiser Karls V., in deren Zuge Deutschland wieder rekatholisiert werden sollte. Die Publikationen bieten die Grundlage, dass die Stadt später „Unseres Herrgotts Kanzlei“ genannt wird. Allein in der Stadtbibliothek sind 250 Schriften aus dieser Zeit erhalten, darunter zwei Schriften Amsdorfs von 1550 und 1554. 1552 zog Amsdorf nach Eisenach, wo er Luthers Schriften herausgab.
Sie sehen, mit Sudenburg haben die durch die Straßennamen erwähnten Reformatoren wenig zu tun, außer, dass sehr viel später die Reformation hier doch Einzug hielt. Die Straßennamen stammen aus der Zeit zwischen 1899 und den zwanziger Jahren. Und es bleibt die Frage, ob man hier eine gefühlte Bringeschuld antragen wollte, oder ob es eine heimliche, späte Rache war, dass man den „Trödlern“ die Namen überhalf? Johannes Karl Friedrich Hesekiel (Pfarrer an der unter ihm neu erbauten Ambrosiuskirche) konnte seine Finger nicht im Spiel gehabt haben. Der war 1886 bereits nach Posen zu höherem berufen. Ludwig Schumann