Selbstbewusste Kinder mit oft unkritischer Arbeitsweise

Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer.“ Stimmt, werden einige zustimmend rufen. Doch dieses Urteil über Erziehung und Bildung junger Menschen fällte der griechische Philosoph Sokrates bereits in der Zeit der Antike. Hat sich nun so gar nichts geändert? Sind Erziehung und Bildung eine Sisyphos-Arbeit, die per se erfolglos bleibt?
Als mir in meinem letzten Dienstjahr als Lehrerin ein Fünftklässler freudestrahlend verkündete, ich hätte schon seinen Vater unterrichtet, fragte ich mich, ob und wie wohl diese große Zeitspanne  Kinder und Jugendliche beeinflusst und verändert hat, welche Ursachen es dafür geben könnte. Ich war mir im Klaren, dass ich darauf keine endgültige Antwort finden würde und wie Sisyphos immer wieder erneut anfangen müsste.
Natürlich stellte ich in diesem speziellen Fall zunächst erst einmal Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn fest, bestimmte Verhaltensweisen – z. B. den Lerneifer ,die Sorgfalt bei der Erledigung erteilter Arbeiten, die Neugier, alles zu hinterfragen, den Ehrgeiz, perfekt zu sein, das zurückhaltende bescheidene Auftreten, auch das sehr eigenwillige Schriftbild usw. Kein Wunder, denn da spielen die Gene sicher eine Rolle. Doch was unterscheidet Kinder und Jugendliche generell heute von denen, die ich vor über 40 Jahren unterrichtet habe, die also mehr als eine Generation trennt?
Grundsätzlich widerspreche ich der oft geäußerten Meinung, die Kinder würden immer dümmer, fauler und sind schlechter erzogen als „früher“. Dem würde auch die Aussage von Sokrates widersprechen. Bleiben wir bei Vater und Sohn und den Gemeinsamkeiten, die beide Generationen miteinander verbindet. Ich stelle fest, dass soziales Engagement, die Solidarität mit Schwächeren, ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und die Empathiefähigkeit die junge Genration immer ausgezeichnet hat und ich bin mir sicher, das wird so bleiben.
Auch die Neugier, Neues zu entdecken, sich auszuprobieren und Ungewohntes zu wagen, ist typisch für die damalige und die heutige Jugend. Die Wege, die dabei beschritten werden, sind nun selbstverständlich andere.
Wenn ich zurückblicke fällt mir auf, dass Kinder früher in gewisser Weise selbstständiger waren, sich im größeren Umfang in ihrer Freizeit „ausprobieren“ konnten. Im Unterricht war das eher weniger der Fall, Frontalunterricht, festgezurrte Lehrpläne und der „allwissende“ Lehrer standen dem manchmal doch im Wege. Kooperativere Lernformen, die Mitbestimmung an der Gestaltung des schulischen Lebens fordern und fördern die Entwicklung der Persönlichkeit der Heranwachsenden. Dagegen scheint mir heute die Kontrolle der Eltern in einigen Situationen zu einengend zu sein. Aber das hat natürlich teilweise berechtigte Ursachen, werden wir doch mit einer Flut – häufig negativer – Nachrichten und Informationen überschwemmt und projizieren diese auf möglicherweise vorkommende Gegebenheiten. Für Kinder ist es schwer, diese Medienflut zu bewältigen, zu verarbeiten und zu differenzieren. Den Eltern und Lehrern kommt dabei heute eine sehr wichtige Aufgabe zu, diesen Vorgang zu unterstützen, ohne das Gefühl der ständigen Kontrolle und Erreichbarkeit zu vermitteln. Früher ein Ding der Unmöglichkeit, wer einen Festnetzanschluss hatte, war schon privilegiert!
In unserer medial geprägten und digitalisierten Zeit können Kinder und Jugendliche schnell und mühelos auf Informationen zugreifen, ihre Kenntnisse ohne größeren Zeitaufwand erweitern. Das führt meiner Ansicht nach manchmal zu einer unkritischen Arbeitsweise mit Medienangeboten. Es wird weniger überprüft, ob Internetinhalte seriös sind. Schnell müdet die unkritische Sicht in die Bemerkung: Muss doch stimmen, oder? Da vermisse ich Bereitschaft, sich schwierigen Aufgaben zu stellen, sich in ein Problem zu verbeißen, nach Lösungen zu suchen und nicht gleich aufzugeben, weil man nicht in kürzester Zeit zum Erfolg kommt.
Insgesamt sind Kinder und Jugendliche heute selbstbewusster und entwickeln daraus starke, autonome Persönlichkeiten. Als Beispiel dafür möchte ich anführen, dass Autoritäten nicht bedingungslos anerkannt werden, dazu rechne ich in erster Linie Eltern und Lehrer. Ein Schüler möchte wissen, wie seine Noten zustande kommen, warum er dieses oder jenes darf bzw. nicht darf. Und das ist gut so! Haben Kinder und Jugendliche früher die Entscheidungen von Erwachsenen zumindest nach außen hin akzeptiert, auch wenn es im Inneren gebrodelt hat, so ist das heute nicht mehr der Fall.
Und da wären wir wieder bei Sokrates: Also ist es doch nicht so schlecht, den Eltern zu widersprechen und die Lehrer zu ärgern. Mit dem Kleckern beim Essen hätte ich dann aber weiterhin mein Problem. Christine Kubon, Pädagogin im Ruhestand

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