Sag, wo die Insekten sind …
Die Biomasse der Insekten geht drastisch zurück. Antworten und Schuldige sind schnell gefunden. Allerdings ist die Sache komplizierter, als es politisch und medial ausgerufen wird. Ein Beitrag zur Aufklärung.
Bei diesem Titel mag Ihnen ein Lied von Pete Seeger einfallen: „Where have all the flowers gone” (1965), oder auch in der Nachdichtung von Marlene Dietrich: „Sag mir, wo die Blumen sind“. Blumen spielen beim Thema Insekten eine wichtige Rolle. Dazu später.
Hobby-Entomologen haben in der Nähe von Krefeld Fangvorrichtungen aufgestellt, in denen sich Fluginsekten verfangen und konserviert werden. Die Auswertung über 27 Jahre zeigte, dass die jährlich gesammelte Insektenmasse um mehr als 75 Prozent geschrumpft ist. Wegen methodischer Mängel gibt es an der Studie Kritik, aber trotzdem ist nicht zu leugnen: Insekten nehmen in unserer Umwelt dramatisch ab. Wir selbst machen die Erfahrung, dass Insektenentferner für Autos kaum noch gebraucht werden. Wer mit offenen Augen durch die Natur geht, kann sich immer seltener an Schmetterlingen erfreuen. Im vergangenen Sommer habe ich nur einmal eine erfreuliche Schmetterlingspopulation gesehen. Es war ein Biotop in Magdeburg – Friedensweiler. Zu DDR-Zeiten hatte man hier Betonbruch abgeladen – in den Augen mancher ein Umweltskandal. Aber dort haben sich zwischen den Betonteilen Mirabellen- und Holunderbüsche angesiedelt, dazu noch Wildkräuter wie Johanneskraut, Disteln und Brennnesseln. Ein Paradies für Schmetterlinge, Schwebfliegen, Wespen, Heuschrecken usw.. Man müsste es unter Naturschutz stellen, aber wer tut das schon mit einer wilden Müllkippe? Fragt man nach den Gründen für den Insektenschwund, der natürlich auch dramatische Auswirkungen auf die Vogelwelt hat, haben Umweltverbände, die Partei der Grünen, Leitmedien und mit ihnen tausende selbsternannte Experten schnell die sprichwörtlich einfachen Botschaften zur Hand: Die Landwirte mit ihren Pestiziden sind die Bösen. Schaut man näher hin, erkennt man, dass dies nur eine Halbwahrheit in einem komplexen Geschehen ist.
Natürlich spielen Insektizide eine Rolle. Ich habe in meiner Jugend den Beruf des Gärtners erlernt. Im 1. Lehrjahr (1962) wurde ich mit einer Düngerschale vor dem Bauch aufs Feld geschickt, wo ich ein graues Pulver auf den Blumenkohl verteilte. Es war DDT. Aber das war nicht das Einzige: Lindan, Wofatox (E605) u.a.m. waren gängige Mittel, die in Ost und West großzügig auf Feldern, in Gärten und Obstplantagen ausgebracht wurden. Das große Insektensterben wurde uns zwar damals mit Büchern wie „Der stumme Frühling“ (Silent Spring, 1962 von Rachel Carson) angekündigt, es fand aber in dieser Zeit kaum statt. Im Gegenteil. Wir hatten Sommer mit Mücken- und Fliegenplagen, Goldafter-Raupen haben ganze Gärten, Parks und Alleen kahlgefressen. Der Insektizideinsatz ist inzwischen wesentlich intelligenter geworden. Die oben genannten Gifte sind europaweit verboten worden. Was heute angewendet wird, ist wesentlich milder. Aber Insektizide aus der Gruppe Neonicotinoide (zu Deutsch: Neue nicotinähnliche Präparate, umgangssprachlich „Neonics“) galten zunächst als umweltfreundlich. Als Saatgutbeize eingesetzt, werden sie von den Pflanzen aufgenommen und richten sich gegen die Insekten, die an ihnen saugen oder fressen. Erst spät wurde erkannt, dass auch nektarsammelnde Insekten kleinste Mengen dieser Wirkstoffe aufnehmen und Schaden nehmen. Sie sterben nicht sofort, aber ihr Nerven- system wird geschädigt. Der Tod kommt schleichend. Das wurde verkannt.
Inzwischen sind einige Neonics verboten, andere gesetzlich stark reguliert. Ob das ausreicht, oder ob diese Wirkstoffklasse ganz verbannt werden muss, kann nur eine intensive Forschung klären. Auf jeden Fall ist die Haltung, man solle am besten alle Pestizide verbieten und ganz auf „Biolandwirtschaft“ umsteigen, Augenwischerei. Keine Landwirtschaft, auch nicht der Biolandbau, kommt ohne Pflanzenschutz aus. Z. B. schädigen Biobauern mit dem Einsatz von Kupferspritzmitteln die Bodenflora und -fauna in einem Maße, wie es sich kaum ein konventioneller Landwirt trauen würde. Die Vorstellung der Biobranche, dass alle Mittel, die natürlichen Ursprungs sind, ungefährlich wären, ist ein esoterischer Wahn. Würde man der populären Forderung nach einem allgemeinen Pestizidverbot nachgeben, fielen Erträge um 50 bis 70 Prozent ab. Örtlich gäbe es gar Totalverluste. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre würde Deutschland die Defizite durch Importe aus den Entwicklungsländern ausgleichen und die Probleme nur exportieren. Das nennt man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Denn in Südamerika, auf Borneo und anderswo, fackelt man Regenwälder ab, um Land für unsere Versorgung mit Landwirtschaftsprodukten zu gewinnen.
Zurück zum Insektenschwund bei uns: Es ist zu kurz gedacht, diesen nur mit dem Einsatz von Pestiziden zu erklären. Die Ursachen sind komplexer Natur und man kennt sie nur unvollständig. Auffällig ist, dass es auch in Naturschutzgebieten weniger Insekten gibt, obwohl dort keine Pestizide eingesetzt werden. Wie wirken sich die immer häufiger auftretenden nassen und milden Winter aus? Verheerend für Insekten. Und welche Bedeutung haben die Veränderungen unserer Landschaften? Kahle Berghänge, Trockenwiesen und auch die Freiflächen der innerdeutschen Grenze verschwinden. Überall wächst Wald auf. Die Umweltministerin Barbara Hendricks verkündete kürzlich frohlockend, dass die ehemaligen Truppenübungsplätze der Natur zurückgeben werden. Verstünde sie etwas von der Natur, wüsste sie, dass damit wertvolle Insekten- und Vogelbiotope verloren gehen. Gegenwärtig gibt es einen Hype und eine emotionalisierende Kampagne um Glyphosat („Glyphosat tötet alles!“), das angeblich am Insektensterben schuld sei, weil die Bauern damit alle Kräuter abtöten und die Insekten somit verhungern müssten. Das ist Unsinn! Gerade weil Glyphosat ein Totalherbizid ist, setzen die Bauern es sparsam ein. Nur wenn sie das Land für die Aussaat vorbereiten, entscheiden sie, ob sie den Bewuchs mit Glyphosat beseitigen oder ob sie alle Pflanzen und mit ihnen Insekten, Lurche und Mäuse unterpflügen und damit sogar ihr eigenes Land gefährden.
Erinnern Sie sich an die Massenkarambolage von 2011 auf der A19 bei Rostock, als die Ackerkrume vom Wind auf die Autobahn geweht wurde und den Autofahrern die Sicht nahm? Es gab acht Tote und 130 Verletzte. Hätten die Landwirte nicht gepflügt, sondern sich für Glyphosat entschieden, wäre das nicht geschehen. Landverlust durch Erosion wird nur wahrgenommen, wenn er mit solch spektakulären Ereignissen verbunden ist. Wo das Pflügen nicht durch Glyphosatanwendung ersetzt wird, ist Bodenerosion an der Tagesordnung. Aber die meisten Parteien haben sich in ihrer populistischen Art zu einer Einheitsfront gegen Glyphosat zusammengeschlossen und mobilisieren Millionen Unterschriften für ein Verbot. Wie gut, dass es wenigstens im Bundeslandwirtschaftsministerium ein paar ausgebildete Agrarwissenschaftler gibt. Dadurch gelang dem Minister Schmidt, in Brüssel für Deutschland ein wissenschaftsbasiertes Votum abzugeben. Die Empörung ist groß, aber für den Naturschutz ist das gut. Klar ist, dass Insekten Not leiden, weil es zu wenige Blütenpflanzen in unserer Landschaft gibt.
Dank der „Energiewende“ des damaligen Ministerduos Trittin und Künast gibt es heute ca. 2,5 Millionen Hektar insektenfeindliche Maiswüste. Rapsfelder, die seither ebenfalls boomen, bringen zwar reichlich Insektennahrung, die Blütezeit deckt aber nur eine kurze Zeitspanne ab. Den sich ausbreitenden profitablen Kulturen fielen immer mehr Biotope zum Opfer. Es verschwanden wildwüchsige Ackerrandstreifen, Feuchtinseln mitten auf dem Feld und Knicks. Bis zum Antritt der damaligen rot-grünen Regierung gab es viele brachliegende Felder, weil sie subventioniert wurden. Dort blühte es reichlich, Insekten tummelten sich und auch Lerchen und andere bedrohte Vögel hatten dort eine Chance. Das alles ist der Trittinschen „Energiewende“ zum Opfer gefallen. Heute versucht man mit subventionierten Blühstreifen am Ackerrand Insektenrefugien zu schaffen. Das ist gut, jedoch bleibt der Effekt weit hinter dem zurück, was wir zuvor hatten. Blühende Leguminosen wie Lupinen, Pferdebohnen, Klee und Luzerne werden kaum noch angebaut, weil die Gewinne im Vergleich zu Mais und Raps gering sind. Als Eiweißfutter importiert man Sojabohnen. Nicht nur auf den Äckern leiden die Insekten Not, sondern auch auf nicht wirtschaftlich genutzten Grünflächen. Im vergangenen Sommer hatte ich mich bei meinen Fahrten von Biederitz nach Magdeburg und auf der Westtangente gefreut, dass nach der Mahd an einigen Rändern wieder Blütenpflanzen aufgewachsen waren: Wegewarte, diverse Kleearten, Schafgarbe, Habichtskraut u.a.m.. Aber eine Woche später war alles abgemäht! Gerade im Spätsommer und im Herbst sind Blüten für die Insekten besonders wichtig. Man muss feststellen, dass es bei uns ein fehlgeleitetes ästhetisches Empfinden gibt. Ist der Grünstreifen an der Straße oder die Grünanlage mit reichlichen Wildblumen nicht viel schöner als die kahlgeschnittene Wiese, auch wenn es manchmal nicht so „ordentlich“ aussehen mag? Hätten wir nicht auch in unseren Stadtparks große Flächen frei, auf denen ökologisch besonders wertvolle Brennnesseln wachsen könnten? Auch viele Haus- und Gartenbesitzer mögen wilde Blumen im Rasen nicht leiden. Sie mähen in kurzen Abständen und spritzen selektive Herbizide gegen Klee, Gänseblümchen und Fingerkraut. Da treten dann auch unsere Umweltminis-terin Barbara Hendricks und die vielen vermeintlichen Umweltschützer nicht auf den Plan, die sich mit dem Argument profiliert haben, dass man gegen ein Herbizid wie Glyphosat sein muss, weil es alles abtötet. Das „Rasenpflege“-Herbizid Dicamba (3,6-Dichlor-2-methoxybenzoesäure) tötet hingegen nur die Blumen und lässt das Gras wachsen, das freilich in seiner Reinkultur für die meisten Insekten keinen Wert hat. Die Weltverbesser bleiben still! Passend illustriert wurde die Sache durch den Film „Schöne neue Landwirtschaft?“ (13. 08. 2017, im ZDF). Er zeigte Felix Prinz zu Löwenstein, den „Guru des ökologischen Landbaus“ im Interview vor seiner Villa mit einer (geschätzt) 1, 5 ha Rasenfläche davor. Unbeabsichtigt erreicht uns die Information, dass hier nicht ein einziges Blümchen blüht! Mit Dicamba totgespritzt oder durch hochfrequentes mähen monotonisiert!
Insektensterben hat viele Ursachen! Es hat wohl schon jeder gesehen, wie sich Insekten von Straßenlaternen angezogen fühlen. Sie umschwirren diese und verenden vor Erschöpfung in Massen. Eine einzelne Straßenlaterne in Bachnähe lockt in nur einer Nacht so viele Köcherfliegen an, wie in der gleichen Zeit am Bachufer über eine Länge von 200 Metern schlüpfen. Moderne LED–Lampen senden weniger kurzwellige Strahlen aus, sodass ihre tödliche Wirkung abgeschwächt ist. Aber auch sie sind nicht unschädlich. Müssen unsere Städte und Dörfer wirklich überall taghell sein? Könnten nicht Bewegungsmelder das Licht auf einsamen Parkplätzen und Wegen nach Bedarf regulieren? Warum müssen Autofahrer, die problemlos von Hannover bis Magdeburg auf einer unbeleuchteten A2 gefahren sind, einen hell beleuchteten Magdeburger Ring vorfinden?
Erinnern Sie sich noch an Zeiten, in denen es auf Bauernhöfen und auch an den Feldrainen Misthaufen gab? Dort und auch in den Ställen konnten sich reichlich Fliegen vermehren. Heute werden die Exkremente der Tiere zeitnah weggespült und vergoren. Für die Stallhygiene gelten hohe Standards. Das ist gut für uns und die Tiere, aber nicht für Insekten. Bauern, die Gülle auf die Felder bringen, müssen diese innerhalb von 4 Stunden unterpflügen. Wie sollen davon Insekten leben? Traurig ist auch die Entwicklung der Weidewirtschaft. Eine Herde von 20 Kühen setzt in den 5 Monaten auf der Weide rund 50.000 Kuhfladen ab. Darinnen vermehren sich Käfer und Fliegen. Reichlich Vogelnahrung! Aber in Sachsen-Anhalt leben von den ca. 350 Tausend Rindern nur noch 20 Prozent im Weidebetrieb! Selbst Stare, Spatzen und Schwalben, die früher in riesigen Schwärmen auftraten, nehmen wegen Nahrungsmangel in ihrer Zahl beängstigend ab! Vergleichbar wertvolles Insektenfutter könnten auch die Kotkügelchen von Schafen liefern. Schafzucht in Deutschland ist schon lange ökonomisch schwierig, aber seit die Politik dem Schutz der Wölfe höchste Priorität beimisst, geben immer mehr Schäfer auf. Viele Politiker und „Umweltschützer“ träumen offenbar von einem „Zurück zur Natur“ mit dichten Urwäldern und starken Wolfsrudeln. Aber für unseren Artenreichtum brauchen wir keine Wölfe sondern blühende Bergwiesen (Pfeiler für Seilbahnen, dürfen gern darauf stehen), Trockenrasen (durchaus auch an Autobahnböschungen) und Heidelandschaften, die von Schafen und Heidschnucken baumarm gehalten werden. Wenn wir Artenreichtum erhalten wollen, müssen wir uns von der Vorstellung lösen, dass die Landwirtschaft, die unter einem enormen Kostendruck steht, Natur- und Artenschutz als Nebenprodukt zur Nahrungsmittelproduktion gratis liefen können. Ökologische Leistungen der Bauern müssen bezahlt werden, und zwar gut! Wir brauchen einen durch die Wissenschaft gestützten Naturschutz! Jedoch haben von denen in Bund und Ländern für die Umwelt und Landwirtschaft zuständigen 18 Ministerinnen und Ministern gerade mal 5 eine agrar- oder naturwissenschaftliche Qualifikation!
Es gibt tausende Jugendliche, die es als höchstes Glück empfänden, ein relevantes Fach zu studieren und anschließend als Landschaftspfleger tätig zu sein, um Maßnahmen zum Artenschutz entwickeln und ausprobieren zu können. Aber selbst Biologen mit einer entsprechenden Ausbildung finden nur selten die gewünschten Anstellungen und verdingen sich notgedrungen oft als Pharmaberater, wo sie mit ihren Musterköfferchen in Gesundheitseinrichtungen sitzen und warten bis der Arzt kommt. Das anfangs genannte Insektenmonitoring, das alarmierende Fakten offenbart hat, wurde nur an einer einzigen Stelle in Deutschland durchgeführt, und dann auch noch als Eigeninitiative von Hobbyentomologen (die hoch zu loben sind). Müssten nicht unsere Politiker solche Aufträge flächendeckend für Deutschland an Universitäten vergeben? Fehlanzeige! Erinnern wir uns am Ende dieses Aufsatzes an den Refrain des anfangs genannten Liedes von Marlene Dietrich: „Wann wird man je versteh’n?“ Prof. Dr. Reinhard Szibor