Reise in die Zwischenwelt

Ein Ausflug zur ältesten Hallig im Wattenmeer vor Schleswig-Holsteins Westküste

Die Warft von Oland liegt im Morgennebel.

Der Himmel liegt auf dem Watt, als wollte er das Leben unter sich begraben. Das Land ringsum blass und fahl, die Farben wie ausgewaschen. Mit einer offenen Güterlore, die von den Anfängen des Eisenbahnzeitalters zu künden scheint, geht es auf dem Küstenschutzdamm hinüber ins spröde Reich der Halligen. Theodor Storm nannte sie einst „schwimmende Träume“. Die nordfriesische Tourismusbranche zehrt bis heute davon. Dagebüll, die letzte Festlandsbastion, bleibt zurück und versinkt nach und nach im Nebel.

15 Häuser, eine Kirche, ein Leuchtturm und eine Schule außer Dienst – Oland ist die älteste von zehn Halligen, die sich seit Jahrhunderten vor Schleswig-Holsteins Westküste knapp über Wasser halten. Es gab Zeiten, da lagen noch Dutzende der kleinen Marschinseln verstreut im Wattenmeer. Doch die Nordsee holte sich eine nach der anderen, zerriss die Großen und verschlang die Kleinen. Um die letzten wogt ein zäher Kampf.

Wenn Sturmfluten die Hallig nicht gerade Land unter setzen, ist Oland knapp drei Kilometer lang und bis zu einem Kilometer breit. Kein Baum, kein Strauch, nur Wiesen und Himmel. Und mittendrin die Warft, der mit Häusern bebaute Überlebenshügel, auf den sich die Menschen bei Gefahr wie in eine Wagenburg zurückziehen. So wie im vergangenen Dezember, als das Meer über die Halligwiesen rollte, als es Welle um Welle den Wall hinaufkletterte und wütend seine Gischt über die Dammkrone schleuderte. „Der Sturm war wie ein Brüllen“, erzählt Christa Peters, eine der 20 Bewohner von Oland. „Da kann einem schon mulmig werden.“

Und doch hat sie diese Zwischenwelt – nicht Land, nicht Meer – seit jeher fasziniert. Irgendwann kam sie schließlich von Föhr herüber, einer richtigen Insel, keine zehn Kilometer entfernt, und blieb. „Die Hallig war immer mein Lebenstraum“, sagt die alte Dame. Allzu viele träumen diesen Traum nicht mehr. Das Taufbecken in der Olander Kirche hat nur noch musealen Wert und seit die drei Töchter der Kühn-Familie in Dänemark aufs Internat gehen, ist auch die Halligschule geschlossen. „Schreiben Sie besser: Die Schule ruht“, bittet Angelika Kühn.

Sie und ihr Mann, beide Jahrgang 1967, zählen mit zu den Jüngsten auf Oland. Im Sommer 1994 hatten sie sich auf der Nachbar-Hallig Gröde kennengelernt. Die gebürtige Wilhelmshavenerin war im Urlaub, Frank Kühn fuhr mit dem Boot rüber und viel mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen. Hat es ihn große Überredungskunst gekos-tet, sie nach Oland zu locken? „Nö, eigentlich nicht“, sagt Kühn. „Sie hat per Telefon ihren Job gekündigt und ist gleich hiergeblieben.“ Es ist ein guter Ort, um Kinder großzuziehen. Es war.

Seit Angelika Kühn auf die Hallig übersiedelte, ist nichts mehr im arbeitsfähigen Alter nachgekommen. Die letzten 25 Jahre nicht. Feuerwerksfreie Silvesterfeste, das Biikebrennen Ende Februar, mit dem der Winter ausgetrieben wird, und die Ringelganstage im Mai sind die Höhepunkte des Jahres. Wer sich für ein Leben auf der Hallig entscheide, sagt Christa Peters, müsse ziemlich gut mit sich selbst auskommen können.

Eine von Frank Kühns Stärken. Mit 18 zog er vom Festland zu seinen Großeltern nach Oland, doch die Weichen waren lange vorher gestellt. „Ich mochte schon immer gern hier sein“, sagt er. „Schon als Kind.“ Die Freiheit, die endlose Weite, die Meereseinsamkeit – Kühn hat das Hallig-Gen. Ein wenig hofft er vielleicht darauf, dass es auch einer seiner Enkel in sich tragen wird. Später mal. Dass seine Töchter zurückkehren, damit rechnet er nicht wirklich. „Ist ja auch schwer hier“, sagt er. „Und was sollten sie denn hier machen? Sind ja alles Mädchen.“

Als er damals beim Landesbetrieb „Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz“ anheuerte, waren sie noch zu acht. Acht Mann für eine Hallig. Haben auf Oland zusammen Dämme gebaut und Lahnungen, haben die Halligkante mit Steinbefestigungen verstärkt und die Lorengleise instand gesetzt. Gut 30 Jahre ist das her. Jetzt sind sie noch zu zweit. Manchmal kriegen sie einen Mann von der Nachbarhallig Langeneß ausgeliehen, und wenn es ganz eng wird, kommt auch Hilfe vom Festland. Und dann fegt wieder ein Sturm übers Watt, treibt das Meer auf die Wagenburg zu und nimmt die Dämme auseinander. Es ist ein ständiger Kampf.

Lorenfahrt mit Frank Kühn zur Hallig Oland. Fotos: Frank Stern

Alle 14 Tage bringt Pastor Matthias Krämer mit der Kirchenlore geistlichen Beistand von Langeneß nach Oland herüber. Allzu viele Seelen sehnen sich an diesem Sonntag allerdings nicht nach Zuspruch. In der kleinen Kirche, die 1824 von einer inzwischen untergegangenen Warft hierher versetzt wurde, haben sich gerade mal vier Einheimische und zwei Touristen eingefunden. Krämer, der entfernt an einen schlanken Tom Jones erinnert, steht am Fenster und blickt hinaus zum Glockenstapel, wo seine Helferin Katharina vehement und ausdauernd zum Gottesdienst läutet. Später werden er und Gottes Wort mit dem Postschiff noch nach Gröde übersetzen. Die zweite Messe an diesem Sonntag.

Es ist neblig draußen. Erst am Nachmittag wird sich die Sonne bis nach Oland durchgekämpft haben und den Blick freigeben auf das Niemandsland und die auflaufende Flut. Angelika Kühn wird dann dick eingepackt in Pullover und Jacke neben dem reetgedeckten Leuchtturm sitzen und einem erklären, dass das aufgeregte Gefiepe, das vom Watt herüberdringt, von Austernfischern stammt, die gerade ihre Trillerbalz abhalten, dass es die Silbermöwen und nicht die Lachmöwen sind, deren Stimme wie Gelächter klingt, und dass die tote Taube, von der einer ihrer Feriengäste berichtet hat, ein Eisvogel ist.

In den letzten Jahren ist Angelika Kühn zu einer passionierten Vogelkundlerin geworden. „Das ist unglaublich spannend“, versichert sie und geht hinüber zu ihrem Fangnetz, in dem sich gerade ein Rotkelchen verheddert hat. Schon seit einigen Jahren beringt sie Singvögel, um im Austausch mit anderen Hobbyornithologen zu untersuchen, wie sich die Artenzusammensetzung in der Region verändert. Vor allem aber führt sie Buch über den Bestand an Ringelgänsen, die hier im Frühjahr auf ihrem Weg nach Sibirien einige Zeit Station machen. „Bummelig 2.000 Tiere“ habe sie letztes Frühjahr gezählt, sagt sie. „Vogelgucken“, nennt es ihr Mann.  

Früher habe er noch Rinder gehabt, erzählt Frank Kühn später bei einem Rundgang durch das Innere der Wagenburg mit ihren Gärtchen, den weißen Zäunen und der alten Tiertränke in der Mitte. Eigenes Vieh aber hat auf Oland schon lange keiner mehr. Kühn war der Letzte, der seine Rinder abgegeben hat. Dafür steht nun den Sommer über „Pensionsvieh“ auf den Salzwiesen. Wird im Mai vom Festland her übers Watt auf die Hallig getrieben – „wie die Tagestouristen“, sagt Kühn – und im Oktober wieder zurück. Bringt etwas Geld in die Kasse. Die Besichtigungstour endet am Friedhof. Seine Großeltern sind hier begraben.

Als sich die Nacht übers Watt legt und Deutschlands kleinster Leuchtturm sein gleißendes Licht wie einen Hilferuf in die Dunkelheit sendet, stellt sich ein Gefühl des Verlorenseins ein, wie es vielleicht nur Stadtmenschen auf einer Hallig empfinden können. Draußen lauert das Meer auf einen günstigen Moment. Wie seit ewiger Zeit.

Am nächsten Morgen wirkt Oland noch verletzlicher als sonst. Der Nebel hält die Sonne zäh auf Abstand, es ist kalt. Als Frank Kühn unten am Fuß der Warft den Motor der Lore anlässt, verfliegt die letzte Hoffnung auf eine weniger frostige Rückfahrt: Es ist wieder die offene. „Ist doch viel schöner als der geschlossene Wagen“, macht Angelika Kühn zum Abschied Mut. „Man ist der Natur so viel näher.“ Hat gut reden in ihrer dicken Jacke. Das Fahrzeug, das längst nicht so alt ist, wie es aussieht, setzt sich in Bewegung. Mit 25 PS geht es auf den Küstenschutzdamm zu. „Deutz-Motor“, sagt Frank Kühn. Die Hallig bleibt zurück – karg, einsam, schön. Nicht jeder ist dafür geschaffen. Frank Stern

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