Mich deuchte, ich sei Gott

Der Wecker tickte. Leise, aber vernehmlich. Das blöde Ding vertickte die Zeit. Zeit, von der niemand weiß, was sie eigentlich ist, die Physiker nicht und die Philosophen nicht, niemand. Doch egal, was es da zu verticken gab, es war die Spanne, die zu leben mir noch übrigblieb: tick … tick … tick … mitleidlos.
„Der Kaffee ist fertig!“, rief es aus der Küche.
„Ja“, röchelte ich. Zwei oder drei Minuten wollte ich mir noch gönnen. Die Augen geschlossen haltend, ging es weiter mit dem Traum. Nein, ein anderer war das jetzt. Angenehme Leichtigkeit durchzog mich wieder, wie Schweben war das. Ha, tatsächlich, ich schwebte! Ich schwebte über mir und sah auf mich herunter. Einen nebligen Bergpfad ging ich entlang.
„Zeit, fragst du, du fragst, was Zeit ist?“
Eine sehr ungewöhnliche Stimme war das, durchdringend und hallend, trotzdem angenehm. Ätherisch irgendwie, erhaben.
„Zeit“, hallte es wieder, „Zeit ist das, was ich dir gegeben habe, damit du weißt, dass es mit dir hier einmal ein Ende hat.“
Mir stockte der Atem.
„Komm!“ Freundlich klang das. „Wohin denn?“, wollte ich fragen, brachte aber kein Wort heraus. Stattdessen merkte ich, wie alles, was meinen Körper ausmachte, anfing zu verschwimmen. Ich verfloss im Nebel meiner Umgebung. Oder wurde ich eins mit dem, aus dem es so göttlich schallte? Denn er war überall. Tatsächlich, es gab keinen Unterschied mehr zwischen ihm und mir! Plötzlich begriff ich: Die Unio mystica war das, die berühmte Unio mystica! Nur einigen wenigen Menschen widerfährt so etwas, nämlich dann, wenn sie in der Tiefe ihres Gebetes meinen, in Gott aufzugehen. Buddhistische Mönche sprechen vom Einswerden mit dem Kosmos. Untersuchungen im Hirnscanner sollen ergeben haben, dass bei solcherart Zuständen die Körperfühlsphäre im mittleren Scheitellappen des Gehirns unteraktiv wird, folglich sich die Körpergrenzen im Geiste aufzulösen beginnen. Und jetzt passierte mir dasselbe. Gewissheit beseelte mich: Es war Gott, mit dem ich verschmolz – ich werde eins in ihm, werde eins mit ihm! Und wenn, dann bin ich Gott. Zumindest ein Teil von ihm.
Zur selben Zeit wurde mir noch etwas anderes bewusst, nämlich dass ich träumte. Ein Klartraum also. Zwar hatte ich von Klarträumen schon gehört und gelesen, wusste, dass es Menschen gibt, die wissen, dass sie träumen, wenn sie träumen. Und sie können ihre Träume sogar steuern. Jetzt war das auch mir vergönnt, großartig!
Wieder zu sprechen fähig, fragte ich, wohlahnend, wen ich da fragte: „Wer bist du?“
Keck schien das, aber da war in mir so etwas wie ein Urvertrauen, von wegen, der da, der wird mir das nicht als Impertinenz auslegen. Und tatsächlich spürte ich in dem großen anderen so etwas wie ein Lächeln. Oder eben, da eins mit ihm, in mir – es war mein eigenes Lächeln!
Wenn alles nur geträumt ist, sagte ich mir, dann guck dich doch mal um! Kurz noch sah ich mich über diesem nebligen Pfad schweben, dann ging es in die Höhe, langsam zunächst, bald schneller und noch schneller. Überall strahlender Sonnenschein jetzt, ein Gebirge konnte ich erkennen, halb Deutschland mit dem dunkelblauen Band der Elbe, immer mehr von Deutschland, ganz Europa dann und schließlich die gesamte Erdkugel. Bis diese sich in einem Meer von Sternen auflöste, hernach in Massen von Galaxien. Nicht nur, dass ich am Ende das gesamte Universum vor Augen hatte, nein, ich wusste alles, was es darüber zu wissen gab. Selbst in die Seelen der Aliens von fernsten Planetensystemen konnte ich blicken, konnte mitempfinden, wie sie empfinden, mitwissen, was sie wussten und mitdenken, was sie gerade dachten. Genauso muss es Gott selber ergehen.
Langsam aber spürte ich etwas wie Ernüchterung, merkte, wie ich mich aus dem großen anderen – aus Gott – herauslöste und schließlich wieder mein eigenes Ich wurde.
„Nun?“, fragte er.
„Dass ich jemals das Universum so erleben darf wie gerade eben!“, kam es von mir.
„Nicht das Universum, nein, du hast nur eines von unendlich vielen gesehen. Gerade mal das Universum, in das ich euch gestellt habe. Schau dich um!“
Mein Blick weitete sich, und ich sah mich in einer Art von Seifenschaum schwimmen. Jedes Bläschen war ein Universum für sich – Paralleluniversen sind das, glaubte ich zu wissen.
„Das da, das ist alles deine Welt?“, fragte ich, gläubig und ungläubig zugleich. „Das alles hast du erschaffen?“
Ich meinte, in Gott Stolz zu verspüren. Stolz, eine derart billige menschliche Regung? Sofort hakte ich nach: „Und wer hat dich erschaffen? Und wann? Und wozu?“
Anstelle einer Antwort zoomte es mich zurück in Richtung unseres eigenen Kosmosbläschens, die Erde tauchte wieder auf, ihre Meere, Wälder, Wüsten, Städte und Dörfer. Einzelne Bäume sah ich und Menschen und Autos. Wie bei „Google Earth“ kam es mir vor, nur dass sich die Vergrößerung ins Beliebige steigern ließ. Eine Birke tauchte vor meinen Augen auf. Ihre Blätter sah ich, bald darauf, wie unter einem Mikroskop, einzelne Zellen, innerhalb der Zellen die Chloroplasten und schließlich, wie die Chlorophyllmoleküle in den hauchzarten Membranstapeln der Thylakoide herumzappelten.
Menschen wollte ich jetzt sehen, und sogleich passierte es. Nicht nur in ihrer Körperlichkeit waren sie zu erkennen, vielmehr noch konnte ich miterleben, was der Geist dieser Menschen in den Sphären ihrer Gehirne gerade produzierte. Auch sah ich Menschen, die längst verblichen sein mussten. Goethe zum Beispiel. Da saß er in seinem Stuhl, altersfett geworden, eine Flasche Rotwein vor sich, müde und halb betrunken. Doch trachtete er noch immer, neue Verse zu schmieden. Gleich darauf erschien er mir als junger schneidiger Reitersmann auf dem Wege ins Elsass. Zu seiner Angebeteten drängte es ihn, zu Frederike Brion. Eine andere Frau, auffällig gutaussehend, saß da und schmiedete Ränke. Um einen Typen ging es, der von ihr abgetrünnt war. – „Abtrünnen“, gibt es das Verb überhaupt, fragte ich mich, und sofort erklang Gottes Stimme: „Wie du weißt, werden Menschen nicht nur abtrünnig von mir, sondern auch voneinander.“
„Das ist für die Betroffenen sehr ärgerlich. Geht dir das auch so?“
„Ärgern, ob ich mich ärgere? Ärger ist ein Gefühl, eines von denen, wie ich sie den Menschen gegeben habe. Ich aber bin kein Mensch, habe keine Gefühle und weder Augen noch Ohren noch einen Bart. Wozu sollte ich so was haben wollen? Einen Bart, einen Jahrtausende alten, tragen gerade mal die Geschichten, die ihr über mich erzählt. In denen zürne ich, wie ihr Menschen zürnt, liebe ich, wie ihr Menschen liebt oder ich empfinde Freude über eure Lobpreisungen, so wie ihr Menschen es tut, wenn ihr von anderen gelobt und gepriesen werdet. Wie ihr mich doch missversteht, mich, den Erschaffer der unendlich vielen Welten, all ihrer Regeln und Gesetze, mich, den Schöpfer all der einzelnen Wesen, so auch von dir! Wollte ich ein Mensch sein, dann wären mir doch eher jene sympathisch und interessant, die an meiner Existenz zweifeln. Je klüger ich die Menschen gemacht habe, umso skeptischer sind sie geraten. Und umso mehr noch gilt das für die Wesen in den euch fernen Galaxien, für die ihr wasserflohartig dumm seid.“
„O Gott!“, entfuhr es mir. Wieder musste ich daran denken: Ein Klartraum war das! Da sollte ich doch noch mal genauer nachfragen: „Ähm, wer eigentlich bist du? Und woraus?“
„Ich bin Geist, ich bin materiefreie Information. Sie ist ewig, ich bin ewig, und die Materie ist mein Produkt. Nichts anderes als eine Hervorbringung der Information, wie ihr sie als Grundkräfte der Physik kennt und als Naturkonstanten. All diese von mir erzeugten Größen durchweben meinen Schöpfungsraum und formen die Energiefelder, aus denen sich das Stoffliche ergibt. Das alles erschaffe ich aus dem Nichts. Ich forme das Erschaffene um, mache Neues daraus oder entlasse es wieder in das Nichts. Nichts gäbe es, wenn es mich nicht gäbe, mich, die materiefreie Information. Ganz gleich, wie ihr sie nennen wollt, wie ihr mich nennen wollt: ‚Weltgeist‘, ‚Weltseele‘, ‚Brahma‘, meinethalben auch ‚Gott‘. Niemandem gestatte ich zu begreifen, wer ich bin, was diese an nichts gebundene Information eigentlich ist. Niemandem, auch den Klügsten in den fernsten Universen nicht.“
„Eins noch bitte, ähm, bitte sag, wer hat dich denn erschaffen? Wann und warum? Und wozu überhaupt und, äm …? „Dein Kaffee wird kalt!“, rief es aus der Küche. Wie gelähmt lag ich da. Gerald Wolf


Der Autor

Prof. Dr. Gerald Wolf, Studium der Biologie und Medizin, bis zu seiner Emeritierung 2008 Direktor des Instituts für Medizinische Neurobiologie an der hiesigen Universität. Hunderte Publikationen, darunter drei Romane:  „Der HirnGott“ (2005, 2008, 2014), „Glaube mir, mich gibt es nicht“ (2009, 2015) und „Das Liebespulver“ (2013).

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