Liebe ... egal, wen
Sarah lief nervös vor der Tür zu ihrem Balkon auf und ab. Ihr Blick flog durch das Wohnzimmer, über Buchrücken, die Staubschicht auf dem Fernseher, das leere Glas auf dem Couchtisch, blieb jedoch immer wieder an der Tür hängen. Irgendetwas daran störte sie. Aber was? Sie konnte sich nicht konzentrieren – ihre Gedanken glitten ständig zu dem ihr bevorstehenden Gespräch ab. Gleich würde sie ihre beiden besten Freundinnen treffen. Und dann würde sie es ihnen sagen. Endlich. Mehrere Tage hatte sie sich darauf vorbereitet, war die Sätze, die aus ihrem Mund kommen sollten, immer und immer wieder durchgegangen. Hatte vor ihrem geistigen Auge gesehen, wie ihre eigenen Lippen die Worte formten. Wie sie Lisa und Franzi endlich erzählte, dass sie sich verliebt hatte. Hals über Kopf, wie man so schön sagt. Es war einfach geschehen und sie hatte sich nicht dagegen wehren können. Warum auch? Warum sollte sie sich gegen so wundervolle Emotionen sträuben?
Dieses Kribbeln im Bauch, das man nie mehr vergisst, wie wenn man zu viel Brausestäbchen isst … hatte Pe Werner Anfang der 1990er ganz treffend gesungen. Dieses Kribbeln im Bauch, das sich auch steigern konnte – fast bis zu einem Gefühl der Übelkeit. Warum bloß fiel es ihr so schwer, darüber zu reden? Sarah starrte den Griff der Balkontür an. Er zeigte nicht senkrecht zu Boden, sondern war etwas schief. Das war es, was sie störte! Sie starrte ihn an. Hatte sie die Tür nicht richtig verschlossen? Wer sonst hätte den Griff in dieser schiefen Position stehen lassen sollen? Schließlich wohnte sie allein in den zwei Räumen, plus Küche und Bad. Sie rüttelte am Griff. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Verschlossen. Na gut, er stand also einfach nur schief da. Zeigte er in eine andere Richtung? Wollte er mal was Neues ausprobieren? Wie konnte er es wagen, von der Norm abzuweichen?
Sarah schloss die Augen und versuchte den Gedanken beiseite zu schieben. Sie konzentrierte sich wieder darauf, was sie gleich Franzi und Lisa erzählen würde. Alle Details ihrer Verliebtheit. Ein paar Jahre hatte sie auf dieses Gefühl warten müssen. Dazwischen einige hoffnungslose Verabredungen – keine davon mündete in ein zweites Treffen. Hatte das an ihr gelegen? Wusste sie nicht, was sie wollte? Oder waren ihre Ansprüche zu hoch? Doch dann, ganz plötzlich und unverhofft, war es um sie geschehen. Bei einem dieser Events, die die Menschen nur besuchen, weil es guten Wein und auf dem Buffet nett angerichtete Canapés gratis gibt – und wegen des Netzwerkens natürlich. Von einer Sekunde auf die nächste waren ihr Wein und Canapés egal gewesen. Netzwerken stand im Vordergrund. Mit dieser einen Person. Ein paar verstohlene Blicke. Lächeln. Anscheinend erfolgreiche Flirtversuche. Mobilfunknummern tauschen. Das erste Gespräch, ohne dabei wirre, unverständliche Worte zu stammeln. Und dann dieses Kribbeln im Bauch.
In den darauffolgenden Tagen waren die Nachrichten scheinbar pausenlos hin- und hergeflogen. Erste Ansätze des Kennenlernens. Fragen nach dem Alter, dem Beruf, der Familie … Schließlich wurde ein Date vereinbart – ausgedehnter Spaziergang an einem milden Herbstnachmittag im Park mit anschließendem Abendessen. Das erste Treffen und Sarah hatte, dem Gefühl in ihrer Magengegend nach zu urteilen, eine Million Brausestäbchen gegessen. Immerhin gelang es ihr, dieses Überschäumen zu verdrängen. Zumindest rückte es beim ers-ten Blickkontakt in weitere Ferne. Ein erstes verbales Abtasten während des Spaziergangs – die Chemie stimmt. Tiefgründige Gespräche, die über die oberflächliche Phase des ersten Kennenlernens hinausgingen, während des Abendessens. Ein zweites Date wurde vereinbart, ein Kuss zum Abschied, dann gingen sie getrennte Wege.
Sarah schwebte nach Hause. Ihre Gedanken kreis-ten ausschließlich um die vergangenen Stunden. Immer wieder rekapitulierte sie das Gesagte, rief sich Gesten der Zärtlichkeit ins Gedächtnis. Dann, als sie in ihrer Vorstellung den Kuss erreichte, musste sie stehenbleiben. Ihre Knie wurden weich wie ein Stück Butter, das nach dem Frühstück auf dem Balkon in der prallen Sonne vergessen wurde. Unmöglich noch einen weiteren Schritt zu machen, lehnte sie sich gegen eine Hauswand. Sie schloss die Augen und lächelte. Diese Lippen! Diese unglaublich sanften Lippen! Als sie die Augen wieder öffnete, war sie sich nicht sicher, ob sie zehn Sekunden oder zehn Minuten so dagestanden hatte. Der abendliche Verkehr quälte sich dessen unbeirrt durch die Straßen. Gelbe und rote Lichter. Sarah zwang sich weiterzugehen und während ihr Körper über den Gehweg glitt, blieben ihre Gedanken wenige Momente vor dem Abschied hängen wie die Nadel eines Plattenspielers auf einer zerkratzten Vinylscheibe. Sie setzte einen Fuß vor den anderen. Erst als sie das leuchtende Reklameschild eines Supermarktes erblickte, wurde ihr bewusst, dass sie die Abbiegung zur Straße, in der sie wohnte, verpasst hatte.
Das alles lag inzwischen eine Weile zurück. Die Kennenlernphase hatten sie bereits hinter sich gelassen. Fast könnte man behaupten, es hätte sich so etwas wie Alltag eingestellt. Sich täglich zu sehen, jede freie Minute miteinander zu verbringen, war zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Zeit, die sie miteinander verbrachten, hatte jedoch nichts an Magie verloren. Das Kribbeln im Bauch hatte zwar ein wenig nachgelassen, war jedoch weit davon entfernt, komplett zu verblassen. Jede Berührung, jeder Kuss löste einen Rausch aus, tauchte die Welt in warmes Licht, ließ die Umgebung verschwinden – wie wenn man den Kopf unter Wasser taucht.
Ihre Freundinnen nickten verständnisvoll als Sarah ihnen die Neuigkeiten in aller Ausführlichkeit erzählte. Nur ein Detail hatte sie verschwiegen: Dass es sich bei der Person, die ihre Welt in so wundervollem Sinn erschüttert hatte, um eine Frau handelte. Als nun auch diese – nicht ganz nebensächliche – Einzelheit über ihre Lippen gekommen war, zuckten Franzi und Lisa synchron mit den Schultern. „Na und? Das spielt doch keine Rolle. Hauptsache, du bist glücklich und fühlst dich wohl“, lautete die einhellige Meinung. Mit dieser unkomplizierten Reaktion hatte Sarah nicht gerechnet … und Tränen der Erleichterung stiegen ihr in die Augen. Wie einfach das doch war! Wie schwer es jedoch noch werden würde – davon hatte Sarah in diesem Moment keine Ahnung. Tina Heinz