Lazare Carnot – berühmter Emigrant aus Frankreich

Heinrich Apel schuf 1987/88 die Gedenkbüste im Magdeburger Nordpark, die an den franzöischen Emigranten Lazare Carnot erinnert. Foto: P. Gercke

Nach dem Sturz Napoleon Bonapartes wurde ein Franzose, der ein herausragender Mathematiker, Festungsbauer, General, republikanischer Patriot und Staatsmann in einer Person war, zu einem berühmten Emigranten in Magdeburg.

Wenn ich durch die Innenstadt spaziere, komme ich nicht umhin, an der einen oder anderen Skulptur, Büste oder Bronzeplastik innezuhalten. Eine, die es mir besonders angetan hat, steht etwas versteckt, im Sommer von Laubbäumen beschattet, im östlichen Teil des Nordparks. Es ist die Büste eines unnahbar erscheinenden Mannes auf einer mit Bronzesymbolen verzierten Steinstele. Mit diesem von Heinrich Apel geschaffenen Denkmal ehrt Magdeburg den Grafen Lazare Nicolas Marguerite Carnot. Auch ein Institutsneubau am nahegelegen Campus der Otto-von-Guericke Universität trägt seinen Namen. Wer war dieser Carnot, der als Emigrant nach Magdeburg kam und dessen Lebensweg sieben Jahre später hier auch sein Ende fand? Als Physiker und Mathematiker verfasste er grundlegende Schriften zur Mechanik („Essai sur les maschines en general“), Geometrie, Trigonometrie (Kosinussatz von Carnot) und Differential- und Integralrechnung („La metaphysique du calcul infinitesimal“). Er war Mitglied wissenschaftlicher Akademien, militärischer Organisator, Festungsbautheoretiker, Revolutionär und Minister in einer Zeit großer europäischer Umbrüche. Seinen Lebensweg prägte die Revolution und er beeinflusste deren Verlauf. Das zusammengenommen macht es reizvoll, die Persönlichkeit eines „Unsterblichen“ unter den Franzosen etwas näher zu beleuchten.
          
Carnot wurde am 13. Mai 1753 in Burgund geboren und wuchs mit 17 Geschwistern im Schoß einer bürgerlichen Familie auf. Das ermöglichte ihm den Besuch eines namhaften, militärtechnischen Polytechnikums (École royale du génie de Mézières), wo er seine mathematisch-technische Begabung entwi-ckeln konnte. Er trat danach in das Ingenieurkorps des französischen Heeres ein und beschäftigte sich vor allem mit dem Festungsbau. Darüber schrieb er einen Bestseller, der noch nach Jahrzehnten als Standardlehrbuch gehandelt wurde. Diese Lebensphase Carnots war eingebettet in die Zeit der zunehmenden Destabilisierung des feudal-absolutistischen Ständestaats Frankreichs durch chronischen Geldmangel. Ein letzter Versuch des Finanzministers Turgots, die Finanzlage der Monarchie nach dem Regierungsantritt von Ludwig XVI. (1774) mit einer Steuerreform auf der Grundlage einer einheitlichen Grundsteuer zu verbessern, lief wegen der Verweigerung von Klerus und Adel auf Privilegien zu verzichten ins Leere. Damit war der Versuch einer „Revolution von oben“ gescheitert, und von nun an bewegte sich die französische Gesellschaft ungebremst auf die „Revolution von unten“ zu. Diese fegte im Bild von zwei Tsunamis das Ancien Régime Frankreichs hinweg. Nach der ersten Welle hielten die Revolutionäre noch an der Monarchie fest, was sich in ihrer Dreierformel, „Die Nation, das Gesetz, der König“, ausdrückte. Die zweite Welle („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“) wurde von der Jakobinerdiktatur geprägt und endete mit der Ausrufung der Republik.
            
Die Französische Revolution war für Carnot auch ein persönlicher Wendepunkt. Er schrieb dazu, „er sei bis zur Revolution ein vernachlässigter, einsamer, zerstreuter Mann gewesen, ein sogenannter Philosoph…“. Carnot vertrat ihre Ideale, engagierte sich sehr für deren Umsetzung und blieb lebenslang ein überzeugter republikanischer Patriot. Das schützte ihn aber nicht vor zahllosen Anfeindungen durch die Jakobiner, besonders von seiten Robespierres, dem Vorsitzenden des Wohlfahrtsausschusses. Dieser Ausschuss war das Machtorgan des Nationalkonvents, sozusagen, „das Schild und Schwert“ der Revolution. Aber wegen seiner organisatorischen Begabung und seines militärtechnischen Sachverstandes galt Carnot als unentbehrlich und das bewahrte ihn während des „la terreur“ (Juni 1793 bis Juli 1794) vor dem Tod durch die Guillotine. Die europäischen Monarchien sahen natürlich nicht tatenlos dem revolutionären Treiben im benachbarten Frankreich zu, sondern versuchten dieses durch militärische Intervention rückgängig zu machen. Deshalb musste zuerst das aus unerfahrenen Freiwilligen und alten königlichen Soldaten bestehende Revolutionsheer zu einer schlagkräftigen Armee geformt werden. Nachdem Carnot die Leitung des Kriegsministeriums übertragen wurde, führte er die Massenaushebung (Levée en masse) ein, die alle unverheirateten Männer zwischen 18 und 25 Jahren zum Wehrdienst verpflichtete. Bei der damaligen Bevölkerungszahl von nur 25 Millionen standen nach kurzer Zeit eine Million Soldaten unter Waffen. Die Bataillone der kämpferisch unerfahrenen Freiwilligen wurde mit denen der alten Frontsoldaten (im Verhältnis 2 : 1) gemischt, um so deren Erfahrungen zu verbreiten. Die Reorganisation des Heeres wurde nach dem Grundsatz durchgeführt: „Die Armee diskutiert nicht, sie gehorcht den Gesetzen und führt diese aus.“ Auf diese Weise wurden die Revolutionskommissare innerhalb der Armee durch junge, weniger Ideologie-geleitete Offiziere ersetzt. Carnot förderte auch die technisch-wissenschaftliche Ausbildung der jungen Franzosen zu Ingenieuroffizieren und Bauingenieuren und wurde einer der Gründungsväter der Elitehochschule École Polytechnique. Nach anfänglichen Niederlagen besiegte die reorganisierte Revolutionsarmee die anti-französische Koalition und Carnot wurde zum „Organisator des Sieges“. Das nächste Ziel der Revolutionsarmee war ein Kreuzzug zur Befreiung der Nachbarstaaten Frankreichs von ihren monarchistischen Unterdrückern. Von nun an war es nur ein kleiner Schritt von der missionarischen Freiheitsbewegung bis zur napoleonischen Anexionspolitik. So kam es, dass Magdeburg ab 1806 unter die Fremdherrschaft Napoleons gelangte, vorübergehend zum Königreich Westfalen gehörte und während dieser Zeit die Hauptstadt des Departement de l´Elbe war.

Porträt zu Lazare Carnot.

Aber auch nach dem Sturz von Robespierre (Juli 1794) und seiner Entourage kam die junge Republik nicht zur Ruhe. Ähnlich erging es Carnot, der als Royalist verdächtigt wurde, von allen Ämtern zurücktrat und in die Schweiz floh. Ab 1797 formierten sich nämlich zunehmend anti-republikanische Kräfte in Frankreich, was zu zwei Staatsstreichen (1797 und 1799) führte. Carnot kehrte nach dem letzten Staatsstreich nach Frankreich zurück. Napoleon erklärte die Französische Revolution für beendet (1799) und lies sich wenige Jahre später zum Alleinherrscher und Kaiser des neuen Frankreichs (1804) krönen. Als Mitglied des Ersten und Zweiten Direktoriums (1795-1797) und republikanischer Patriot hatte Carnot bereits die Wahl Napoleons zum Ersten Konsul auf Lebenszeit abgelehnt. Er stellte sich auch gegen die durch eine Volksabstimmung beförderte Errichtung des Kaisertums und schlug mit dem Hinweis auf sein Alter eine weitere Tätigkeit im Staatsdienst aus. Für mehr als zehn Jahre zog sich Carnot aus dem politischen Leben zurück und widmete sich seinen wissenschaftlichen Studien. Obwohl sein Auftreten gegenüber Napoleon von Zeitgenossen als unterkühlt bezeichnet wurde, schätzte ihn Napoleon: „Carnot war in allem was er tat ein ernsthafter Arbeiter, ohne Intrigen, aber leicht zu täuschen. Er zeigte große moralische Courage. Er war loyal, aufrichtig, hart-arbeitend und wahrhaftig.“ Es spricht auch für die Reputation Carnots, dass er als ein Befürworter der Hinrichtung von Ludwig XVI. und damit ein sogenannter „Königsmörder“ war, in der Ministerriege des Kaisers geduldet wurde. Nach dem Untergang der Grande Armée im Russlandfeldzug 1812/13 und der Völkerschlacht bei Leipzig wurde auf Betreiben der Allierten Napoleon auf die Insel Elba verbannt. Nach dessen Ausbruch von dort und seiner Rückkehr auf das Festland, bot Carnot jetzt Napoleon seine Dienste an. Das geschah nicht aus einer späten Begeisterung für den Kaiser, sondern war eher Ausdruck für den Einsatz von Carnots um das in Not geratene Vaterland. Napoleon macht ihn während seiner Herrschaft für hundert Tage zum Innenminister und erhob ihn in den Grafenstand.

Nach der Abdankung Napoleons und der Restauration der Bourbonen-Herrschaft wurde Carnot des Königsmordes an Ludwig XVI. bezichtigt und verbannt. So kam er über einen Kurzaufenthalt in Warschau 1816 nach Magdeburg. Hier lebte er zurückgezogen und widmete sich der Erziehung seines jüngsten Sohnes (Hippolyte) und seinen wissenschaftlichen Studien. Die Begegnung mit Magdeburgern wurde mit den Worten beschrieben: „Jeder der ihm nahet, beeiferte sich, ihm die lebhaftesten Verehrung zu bezeugen, also dass er in der Fremde wie im Vaterlande sich erkannt fühlte“. Er starb am 2. August 1823, wurde zuerst in der Johanniskirche beigesetzt und später auf den Nordfriedhof, dem heutigen Nordpark, umgebettet. Damit geriet sein Name aber nicht in Vergessenheit. Seine sterblichen Überreste wurden 1889, 100 Jahre nach der Französischen Revolution, unter großer öffentlicher Anteilnahme in das Pantheon überführt und Carnot gehört seither zu den "Unsterblichen" unter den Franzosen. Friedrich Bötticher, der damalige Oberbürgermeister von Magdeburg, „verabschiedete“ Carnot mit den Worten: “Für uns wird die Erinnerung an diesen großen Mann, dem wir trotz seiner Bescheidenheit eine Bereicherung des Ansehens unserer Stadt verdanken, auf immer lebendig bleiben.” Sein Sohn Sadi erbte die naturwissenschaftliche Begabung und beschäftigte sich tiefschürfend mit der Physik der Dampfmaschine (Carnot-Kreisprozess). Carnots Enkel, Marie François Sadi Carnot, wurde Präsident der Dritten Republik Frankreichs (1887-1894).

Warum wählte Carnot gerade Magdeburg zu seinem Wohnsitz? Lieber Leser, hier kann ich als Anwort nur eine Spekulation anbieten. Schon vor der Revolution wurde Carnot in Preußen sehr geschätzt und nach 1815 versuchten der preußische Kanzler (von Hardenberg) und sein Kriegsminister (von Boyen), Carnot für den preußischen Staat zu gewinnen. Zu der Entscheidung Carnots für Magdeburg kann auch ein militärisches Rätsel beigetragen haben, das er als Festungsbauer verstehen wollte. Obwohl Magdeburg die stärkste Festungsanlage in Preußen hatte, kapitulierte 1806 der Festungsgouverneur General von Kleist mit über 20.000 Soldaten und 800 Kanonen vor nur 7.000 Franzosen. Magdeburg war außerdem auch ein Rückzugsort emigrierter Hugenotten. Die Grusons (Gruson-Gewächshäuser) sind hierfür ein bekannter Familiename. Um 1700 lebten ca. 1.400 Menschen in der Colonie Française de Magdebourg (1685-1808), die ein eigenständiges Gemeinwesen besaß. Dieses befand sich auf dem Gebiet des Knattergebirges, eines Teils der Altstadt, die im Norden von der Lukasklause, im Westen von der Jakobstraße und im Süden von der Johanniskirche begrenzt wird. Vielleicht hat auch diese ehemalige „französische Enklave“ einen Anteil daran, dass sich Carnot für Magdeburg entschieden hat? Prof. Dr. Peter Schönfeld

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