Kann man vergessen?

Ein Erlebnis bleibt für mich unvergessen: vor vielen Jahren war einmal eine Ausstellung über die Zerstörung Magdeburgs 1945. Ich weiß nicht einmal genau, ob diese Ausstellung vor oder nach dem Ende der DDR stattfand. Trotzdem habe ich daran eine ganz besondere Erinnerung. In einem Raum war ein Luftschutzkeller aufgebaut, mit Bank, Stühlen, Feuerpatsche, Schaufel, Sand und anderen Utensilien. Wenn man diesen Raum betrat, ertönten Sirenentöne und es waren dumpfe Geräusche wie von ferneren Bombeneinschlägen zu hören sowie das alles überlagernde Dröhnen der Motoren der Bomberflotte. Mir wurde ganz anders. Ich setzte mich auf einen Stuhl und stellte fest, dass ich heftiger atmete und mein Puls sich enorm beschleunigt hatte. Die Erklärung dafür fand ich bald.

Ich wuchs in einer benachbarten Kleinstadt auf, die selber nie von einem Bombenangriff betroffen war. Aber Fliegeralarm war in den letzten Kriegsjahren häufig und meine Mutter riss mich Vorschulkind sicher oft genug aus dem Schlaf und ging mit mir in den Luftschutzkeller. Dort warteten wir dann auf den Dauerton der Entwarnung. An diese Tatsachen habe ich keine bewusste Erinnerung, es war mir nur theoretisch klar, dass es so gewesen sein musste und meine Mutter sprach auch manchmal darüber. Doch es besteht bei mir keine Vorstellung mehr, wie dieser Luftschutzkeller aussah und wer alles mit uns darin saß. Das war vergessen, genau wie eine Erinnerung, ob ich dabei geweint hätte oder gleichgültig gewesen war oder sogar weiter geschlafen hatte. Doch dieses Erlebnis im Museum zeigte mir, dass die Reaktion des vegetativen Nervensystems mit Beschleunigung des Pulses und der Atmung eine tief im unbewussten gespeicherte Erinnerung war. Diese Kriegsgeräusche, die ich ja tatsächlich vor vielen, vielen Jahrzehnten gehört hatte, lösten in etwa die gleichen vegetativen Reaktionen in mir aus, wie damals das angstbesetzte Gewecktwerden durch meine Mutter. Der alte Spruch „das Gehirn vergisst nichts, es hat es nur nicht immer parat“ hatte sich bewahrheitet.

Das wahre Vergessen findet nicht irgendwo in der Landschaft, sondern im Gehirn und im Herzen statt; wobei mit dem Herzen etwas poetisch das Gefühl gemeint ist. Und das Herz erinnert sich länger als das Gehirn. Unsere Neurobiologen und Hirnforscher werden jetzt natürlich ob dieser laienhaften Aussage die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber diese Wissenschaftler, die viel über die Arbeitsweise des Gehirns wissen, können vielleicht erklären, wo das Vergessen stattfindet, vielleicht auch biochemisch wie es stattfindet – aber sie haben keine Antwort darauf, was vergessen wird und vor allem warum etwas Bestimmtes vergessen wird. Von der Psychoanalyse wissen wir, dass die betreffenden Erinnerungen fast immer etwas mit negativen Gefühlen zu tun haben, wie Scham, Schuld, großen Ängsten oder sehr unangenehmen oder peinlichen Gedanken und Erlebnissen. Sigmund Freud sprach in seinem Buch „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ von Fehlleistungen. Die Betonung liegt dabei auf Leistung, denn es ist eine Leistung des Gehirns, das von unserem Bewusstsein peinliche Gefühle oder Erinnerungen fernhalten  soll. Bei Freud waren das natürlich meist sexuelle Inhalte. Heute wissen wir, dass das Spektrum wie schon erwähnt natürlich sehr viel breiter ist. Es findet eine Verdrängung dieser unangenehmen Erinnerungen oder Gedanken aus dem Bewussten in das Unbewusste statt, wo es scheinbar – aber nur scheinbar – zugriffssicher aufbewahrt wird, aber eben nicht gelöscht ist. Und manchmal stößt man durch besondere Ereignisse dann doch auf das tief Archivierte. Vor Freud hat schon Friedrich Nietzsche dieses Phänomen erkannt und in seinem Werk „Jenseits von Gut und Böse“ beschrieben: „Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“ Vielleicht könnte man für das Wort Stolz bei Nietzsche auch „Gewissen“ einsetzen?

Warum wollen wir manches nicht mehr wahrhaben und lassen es dem Vergessen anheimfallen? Beachten manchmal Menschen nicht mehr, die wir früher Freunde nannten oder umgekehrt, dass wir von ihnen gemieden werden? Können uns kaum daran erinnern, dass wir zusammen auch schöne Stunden und schöne Erlebnisse hatten? Das hat meistens etwas mit Kränkung und Enttäuschung zu tun. Es gibt ja den schönen Ausspruch, der manchmal nach einer Aussprache gebraucht wird: vergeben und vergessen! Wenn es nur so einfach wäre. Vergeben kann man durchaus vieles, aber mit dem vergeben ist es noch lange nicht vergessen. Wir können die Kränkung eines uns nahestehenden Menschen mit unserem gutem Willen vergeben, aber wir können sie nicht einfach so vergessen. Diese Macht über unsere Erinnerungen haben wir nicht, dass wir sie bewusst löschen könnten. Aber auch das Vergeben hat Voraussetzungen, die am besten durch die katholische Kirche für die Beichte beschrieben sind. Der erste Schritt, „Zerknirschung des Herzens“ genannt, ist die aufrichtige Reue. Da-rauf muss die „Bewegung des Mundes“, d. h. das Bekenntnis der Schuld erfolgen. Erst dann ist die Vergebung als dritter Schritt möglich. Aber mit vergessen hat das natürlich nichts zu tun.

Das betrifft das individuelle Vergessen. Bei Völkern oder Nationen erlebt man immer wieder, dass aus ideologischen Gründen das kollektive Vergessen vorangegangener Zeiten oft mit Gewalt inszeniert werden soll. Die Geschichte bietet reichliche Beispiele dafür. So zum Beispiel vernichteten die islamistischen Taliban in Afghanistan die große Buddhastatue, im Irak sprengten die Islamisten antike Bauwerke. In der französischen Revolution wurden 1793/94 die Grabstätten der französischen Könige in der Kathedrale Sankt Denis geplündert und vernichtet und dort, wie auch in vielen anderen Kathedralen wertvolle Skulpturen beschädigt oder zerstört. Es wurde eine neue Zeitrechnung eingeführt mit dem Jahr eins der französischen Revolution – so als hätte es vorher nichts Wichtiges gegeben. Das Christentum war in dieser Beziehung in seiner frühen Zeit nicht besser, viele Kirchen Italiens zum Beispiel schmücken sich mit dem Marmor heidnischer Tempel, die als Steinbruch für Baumaterial dienten. Auch heidnische Feiertage wurden mit christlichen Bedeutungen gewissermaßen übertüncht. Radikale Strömungen wollen oft die Zeugnisse der Vergangenheit auslöschen, so als begänne die Weltgeschichte erst mit ihnen und vorher habe es nichts Nennenswertes gegeben. Andere Beispiele aus neuerer Zeit sind zum Beispiel die Kulturrevolution in China mit der Zerstörung von Tempeln, Bibliotheken und Denkmälern und noch schlimmer: die Untaten der Roten Khmer in Kambodscha, die die gesamte städtische Bevölkerung aus ihrer Heimat entfernten und in unmenschlichen Lagern unterbrachten. Es war, als sollte die gesamte kollektive Erinnerung eines Volkes gelöscht und dem Vergessen anheimgegeben werden.

„Gehirnwäsche“ ist ein durchaus passender Ausdruck für dieses Vorgehen. Es waren aber nicht nur die Bauten und Leistungen vergangener Zeiten, die vergessen werden sollten, sondern auch die Erinnerung an einzelne Menschen sollte bewusst vernichtet werden. So wurden in der Zeit des Stalinismus ehemalige Revolutionäre auf Fotos wegretuschiert und die verfälschten Aufnahmen dann veröffentlicht, weil sie inzwischen durch Stalin zu Staatsfeinden erklärt wurden. Sie wurden sozusagen zu Unpersonen. „Wer die Vergangenheit kontrolliert – kontrolliert die Zukunft“, schrieb George Orwell, der in seinem beängstigenden Roman „1984“ schilderte, wie im Wahrheitsministerium – so hieß es in perverser Weise – alte Zeitungen bei Bedarf mit veränderten Inhalten neu gedruckt wurden. Ein Beispiel für stattlich inszeniertes kollektives Vergessen ist auch der Zukunftsroman „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury, wo beschrieben wird, dass in einem Staat alle Bücher verbrannt und vernichtet wurden, die vor diesem Staat geschrieben wurden und zur Weltliteratur zählten. Doch Menschen trafen sich im Park, jeder hatte einen der vernichteten berühmten Romane auswendig gelernt und sie erzählten sie den anderen. So wurden diese Menschen zu Staatsfeinden. Wer denkt da nicht an die Bücherverbrennung zur Zeit des Faschismus? Dieses inszenierte „Vergessen“ ist zutiefst unmoralisch und eine Frucht des Hasses, aber auch der Angst vor Machtverlust. Selbst unsere demokratische Zeit hierzulande ist nicht frei davon. So werden in Berlin auf Antrag von Grünen und Linken Straßen und Plätze des sogenannten afrikanischen Viertels, die nach deutschen Afrikaforschern der Kaiserzeit benannt wurden, umbenannt. Unter anderem auch der Name des Altmärkers und in Stendal aufgewachsenen Gustav Nachtigal (1834-1885), der im Reichstag für die Abschaffung der Sklaverei eintrat und den damalige offizielle Berichte kritisierten, dass sich der Konsul Nachtigal zu sehr der Erforschung der islamischen Kultur Nordafrikas widme und sich nur unzureichend für die Interessen der deutschen Exportwirtschaft einsetze. „1984“ lässt grüßen? Man versucht nicht, diese Menschen als Kinder ihrer damaligen Zeit zu sehen und zu verstehen, sondern misst sie unredlicherweise mit heutigen, ideologisch verbogenen Maßstäben. Dr. Paul R. Franke

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