Hengstmanns andere Seite: Kein Tag wie jeder andere
Es gibt so Tage im Leben an die man sich genau erinnern kann. Ob nun gute Tage oder schlechte Tage, das sei dahin gestellt. Aber man erinnert sich. Oftmals eben sehr genau. Grundlage der Erinnerungen ist völlig klar: Jene an welche man sich erinnert, da muss man dabei gewesen sein. Also bei dem Ereignis an das man sich erinnert. An meine Geburt kann ich mich allerdings nicht erinnern, obwohl ich persönlich dabei war.
Hirnforscher haben, wie auch immer das gehen soll, heraus gefunden, dass man sich an jeden Tag seines Lebens auf Grund der Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns erinnern könnte. Das ist aber rein von der biologischen Fähigkeit des menschlichen Körpers quasi unmöglich. Der sich Erinnernde müsste sein ganzes gelebtes Leben noch einmal erleben.
Das Jahr 2019 ist ein sehr erinnerungsträchtiges Jahr. Begehen wir doch in diesem Jahr so einige Jubiläen. 100 Jahre Bauhaus in Dessau. Ein Bauhaus gibt es aber auch in Magdeburg. Ja! Draußen im Stadtteil Rothensee. Ich habe mir dort neulich eine Hacke gekauft. Doch zurück zu den Jubiläen. 1919 wurde Wahlrecht für Frauen eingeführt. Seit 70 Jahren existiert in Deutschland das Grundgesetz und die Politiker aller Parteien bemühen sich mit aller Kraft, dieses Grundgesetz auf Grund zu setzen.
Man bemerkt aber, dass die Jubiläumszahlen immer kleiner werden. Das zahlenmäßig kleinste Jubiläum ist der neunte November 2019. Auf den Tag genau, also vor 30 Jahren, begann der sogenannte antifaschistische Schutzwall langsam aber heftig zu zerbröckeln. Schuld an diesem historischen Ereignis war eigentlich nur ein kleiner Zettel in der Hand von Günther Schabowski. Er las, wie man es immer von den führenden Genossen gewohnt war, brav und artig ab. Er verkündete mit unbewegter Stimme: Alle Ausreisewilligen können über die Grenzübergangsstellen die DDR verlassen. Auf die Frage eines Journalisten ab wann das gilt, sagte Schabowski den legendären Satz: Also meines Wissens gilt das sofort, unverzüglich! Was dieser gewollte oder ungewollte Lapsus an den Grenzübergangsstellen dann auslöste ist hinlänglich bekannt. Viele versuchen sich heute zu erinnern, was sie an jenem neunten November eigentlich taten. Frau Merkel schwitzte in der Sauna.
Ich aber fror. Und zwar im kühlen und stürmischen Wind der Ostsee. Der Tourneeplan der Konzert- und Gastspieldirektion Rostock setzte meinen lieben Freund und Kollegen Hans-Jürgen Beyer auf der Insel Rügen in Binz ein. Als ich die Nachricht Schabowskis im Autoradio vernahm begann ich kräftig zu stutzen. Das kann nicht sein, so dachte ich in meiner noch damals vorhandenen Unwissenheit. Ich hatte diese Nachricht komplett falsch interpretiert. Ich argumentierte eindringlich meinen Kollegen gegenüber, dass die Ausreise nur für die DDR-Bürger in Frage kommt, welche einen Ausreiseantrag gestellt hatten und nun völlig unbürokratisch ihr nicht geliebtes Vaterland verlassen dürfen.
Ha! Oftmals ist ein Irrtum die Mutter der Erkenntnis. Am 10. November war ein Gastspiel im großen Saal des Kurhauses in Binz geplant. Circa 800 Zuschauer sollten diesen riesigen Kulturtempel füllen. Diese 800 Zuschauer füllten aber nicht den Saal des Kurhauses, sondern die Straße in Binz in der sich das Volkspolizeikreisamt befand. Sie wollten sich alle diesen Visumstempel in ihren Personalausweis drücken lassen. Wir spielten aber trotzdem. Vor etwa 30 Zuschauern. Es waren alles Menschen, die das Rentenalter längst erreicht hatten. Ein älterer Herr nahm mich beiseite und sagte sinngemäß zu mir: Alle, die da jetzt kopflos in den Westen rennen, werden schon sehen, was sie davon haben. Ich bin Rentner und war schon ein paar Mal drüben. Ich weiß, wie der Hase im Westen läuft und welche hundsgemeinen Haken er schlägt.
Plötzlich begann mich dieser Mauerfall doch sehr zu beschäftigen. Nämlich, was mein Repertoire als Kabarettist betraf. Hansi Beyer konnte seine Lieder getrost weiter singen. Aber ich? Über Nacht musste ich mir neue Texte einfallen lassen, aber ohne zu wissen, wohin im Osten der Hase läuft. Jetzt, da ich auf der Bühne alles sagen durfte, wollte es plötzlich keiner mehr hören. Wie bereits erwähnt: Die Zuschauer blieben weg. Kaum einer interessierte sich in dieser Zeit für Kunst und Kultur. Nur endlich reisen und kaufen. Ich hatte Gastspielverträge bis Ende 1990 in der Tasche. Doch diese Verträge waren mit einem Mal nicht mehr so viel wert, wie das Papier, auf dem sie standen. Mich überkam plötzlich ein Gefühl, das ich bisher nie kannte. Existenzangst! Aber! Es gibt mich immer noch! Und zwar als Kabarettist.
Viele fragen mich heute, was denn der Unterschied zwischen dem Kabarett im Sozialismus und in der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sei. Da antworte ich sehr oft: Im Sozialismus war es irgendwie leichter. Ich konnte, besser: musste Texte schreiben, in denen das Publikum zwischen den Zeilen mitdachte. So entstand ein sehr diffiziler Humor, welcher oft mit lautem Lachen und viel Beifall bedacht wurde. Heute (wie schon erwähnt), da man alles sagen darf, ist es manchmal sehr schwer, die Erwartungshaltung des Kabarettpublikums noch zu übertreffen. Und eines sei noch erwähnt. In der heutigen Zeit spürt man, wenn man auf der Bühne steht, eine Fraktionierung im Publikum. Man spürt irgendwie, wo CDU- oder SPD-Wähler usw. sitzen. Aber auch das kann man lernen. Früher ging es immer nur gegen eine Partei. Und heute? Das Parteienspektrum in Deutschland gleicht einem Plisseerock. Es ist sehr vielfältig. Also heißt es für den Kabarettisten in dieser Zeit: Die Falten rausbügeln. Ich wünsche mir immer ein heißes Bügeleisen. Frank Hengstmann