Gänsehaut, Lachen und Nachdenklichkeit
Es finden sich Menschen, die sich nicht kennen. Was bewegt sie und wohin bewegen sie sich? Warum? Wer gibt den Weg vor, wer läuft mit? Wie einst im Herbst 1989 finden sich heute Leute, begeben sich auf einen gemeinsamen Weg, von dem sie zunächst nur den Start kennen: das Schauspielhaus. „Utop 89“ führt sie auf einen Weg zwischen Geschichte und Selbsterkennen.
Schließt euch an!“, schallen fordernd Ruf-Chöre. Doch zu sehen sind sie nicht. Vielmehr gehen leisen Schrittes Frauen und Männer in einer kleinen Gruppe die Straße entlang. Akustisch scheinbar von der Außenwelt abgeschirmt durch Kopfhörer. Die jedoch sind eher eine Verbindung zwischen dem Jetzt und jenem, was im Herbst 1989 geschah. Sie hören die Rufe von damals. Einige Personen schauen sich suchend um. Was ist Geschichte, was ist Spiel und was passiert gerade jetzt, im Heute? Genau das ist der Punkt: „Utop 89“ führt in die Vergangenheit und gleichzeitig in die Zukunft, betrachtet das heute, lässt zeitgleich Zweifel und Utopien aufkeimen.
Der Weg führt zum Dom. Zeitzeugen berichten von bewaffneten „Sicherheitskräften“. 20.000 waren an jenem Herbsttag 89 im Einsatz – Polizei, Armee, Kampfgruppen der Kombinate. Zeitzeugen erzählen. Von beiden Seiten. Von der Angst, zum Dom zu gehen. Von der Angst, als Armist eventuell gegen Freunde und Familie schießen zu sollen. „,Im Dom wird Blut fließen’ hieß es damals“, erzählt Giselher Quast. Gänsehaut überkommt einen bei diesen Berichten. Stehend vor dem riesigen Wahrzeichen der Stadt, Dreh- und Angelpunkt auch der Demonstrationen 89. Zunächst trafen sich rund 1.300 Frauen und Männer, sangen zur Musik einer einzelnen Gitarre. Später formierten sich Gruppen, formulierten ihre Forderungen. 22 waren es, erzählt der frühere Domprediger: „Pressefreiheit stand ganz oben, Glaubensfreiheit, freie Wahlen.“ Ganz unten, so erinnert er, habe die deutsch-deutsche Frage gestanden. Welche Forderungen gäbe es heute? Die Teilnehmer schreiben ihre auf Transparente. Es ist ein seltsames Gefühl, damit über den Breiten Weg zu gehen. Heute ist es keine Angst vor Repressalien. Ich komme mir etwas albern vor mit meinem Gekritzel. Eine schöne Handschrift ist das nicht. Doch zur Forderung stehe ich: Dass Politiker für das Volk da sein sollen und nicht für Parteipolitik. Andere schreiben vom Klimaschutz, vom Frieden, Gerechtigkeit für Jedermann. Auch wenn sich das Leben, die Gesellschaft geändert haben – die Themen ähneln sich.
Weitere Zeitzeugen berichten. Gabriele Herbst, Tom Koch, Andreas Ulrich … Jacqueline Brösicke erzählt vom Kämpfen um Anerkennung der Frauenbewegungen. Und wie in nächtlichen Aktionen Straßen umbenannt worden sind, Namen von Frauen erhielten. Was hat sich geändert? Ein anderer Zeitzeuge berichtet vom Schweigemarsch der 30.000 Menschen zur ehemaligen Zentrale der Staatssicherheit. Deren Entmachtung. Und wie Mitarbeiter beim Verlassen des Gebäudes kontrolliert wurden, damit sie keine Akten hinaus schmuggeln. Wäre das heute möglich? Dem Verfassungsschutz in die Taschen schauen? Chefs ablösen wie damals beim Radiosender DT64? Fragen über Fragen.
Mit „Utop 89“ ist dem Team um Meret Kiderlen und Kim Willems eine Inszenierung gelungen, die spannend ist, Gänsehaut erzeugt ebenso wie Lachen, die nachdenklich macht und so Manches in neuem Licht erscheinen lässt. Akustisch Vergangenes und Zukunft verbindend (Sound: Karolin Killing). Unbedingt erlebenswert. Allerdings dauert der Rundgang rund zwei Stunden – bequemes Schuhwerk dringend erforderlich. (ab)
*Utop 89 ... und wer kümmert sich jetzt um die Fische? Stadtrauminszenierung, für das Theater Magdeburg. Termine: 2. November, 14, 15 und 16 Uhr; 9. November, 14, 15 und 16 Uhr. www.theater-magdeburg.de