Festmahl auf Bestellung

Die Jacke hatte ich bereits angezogen. Mit aufgestelltem Kragen, Reißverschluss ganz oben. Handschuhe … wo hatte ich die hingelegt und benötigte ich sie überhaupt? Im Auto würde es sicher nach einer Weile warm werden. Doch zumindest brauchte ich sie, damit mir die Finger beim Enteisen der Frontscheibe nicht erfroren. Mein Chef hielt sie mir plötzlich vors Gesicht. „Und die hier darfst du auch nicht vergessen.“ Er drückte mir zusätzlich eine rote Mütze mit weißer Bommel in die Hand. „Ist ja schließlich Weihnachten …“ Zum Glück war er nicht auf die Idee gekommen, mir noch einen weißen Bart oder eine leuchtende rote Nase zu verpassen. Widerwillig setzte ich die Mütze auf, ging hinaus, um das Auto startbereit zu machen und nahm dann die fertige Pizza entgegen. Warum in aller Welt hatte ich mir am ersten Weihnachtsfeiertag die Schicht aufdrücken lassen? Während meine Familie gemütlich im warmen Wohnzimmer beisammensaß, den Duft des Weihnachtsbaums einatmete, sich auf Stollen und Kaffee freute und sich vermutlich auch an die ein oder andere Peinlichkeit früherer Feiertagsbegebenheiten erinnerte, schlurfte ich mit der ersten Pizza-Lieferung meiner heutigen Schicht über den glatten Weg bis zum Auto. Ich verstaute die Pizza und setzte mich hinter das Steuer. Sofort jagte mir ein Schauer über den Rücken, als sich die Kälte des Fahrersitzes durch meine Kleidung gebohrt hatte. Im Schneckentempo navigierte ich das Auto durch die Stadt – es war schließlich Feiertag und geräumte Straßen konnte man deshalb nicht erwarten. Cracau musste ich ansteuern. Jenseits der Elbe bog ich in eine Straße ab, die von Einfamilienhäusern flankiert wurde. Überall schimmerten Lichter in den Fenstern, hier und da war sogar ein Blick auf den geschmückten Nadelbaum zu erhaschen. Ob in diesem Haus Kinder fröhlich mit den Sachen spielten, die sie zuvor geschenkt bekommen hatten? Ob in jenem Haus noch der Duft von Gänsebraten und Rotkohl in der Luft lag? Ob diese Familie gemeinsam Weihnachtslieder angestimmt hatte? Oder ob in jener Familie schon am ersten Feiertag wegen Nebensächlichkeiten gestritten wurde? Der sogenannte Lagerkoller stellt sich schließlich schnell ein … Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Im Auto war es inzwischen recht warm geworden und ich fragte mich beim Anblick der dekorierten Fenster, was meine Eltern und Geschwister wohl jetzt, in diesem Moment, machten. Hier! Etwas stärker, als beabsichtigt, trat ich auf die Bremse. Aber das Auto kam zum Glück problemlos zum Stehen. Hier war die richtige Adresse. Einen Moment saß ich regungslos im Auto, starrte auf das Haus. Schwibbogen im Fenster – vermutlich Wohnzimmer, bunte Weihnachtsmotive und Lichterkette – sicherlich Kinderzimmer, dunkel und verlassen – wahrscheinlich die Küche. Ich stieg aus dem Auto, schnappte mir die Pizza-Kartons und ging – um mein Gleichgewicht bemüht – zur Eingangstür. Ding-Dong. Als sich die Tür langsam öffnete, setzte ich mein breites Feiertagsgrinsen auf und rückte die rote Mütze zurecht. „Ah, das ging ja schnell“, sagte der Vater ebenfalls mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Und als müsste er sich dafür entschuldigen, mich an diesem Tag zu belästigen, schob er eine Erklärung hinterher. „Also das ist uns ja noch nie passiert. Wir haben das Essen zubereitet – alles perfekt aufeinander abgestimmt. Dann waren wir in der Kirche und als wir nach Hause kamen, war der Braten noch immer kalt. Roh. Verstehen Sie? Wir haben vergessen, den Backofen anzumachen …“ Sein Lächeln wirkte inzwischen etwas dümmlich. Und während ich ihm die bestellten Pizzen in die Hand drückte, murmelte er noch, dass die Kinder Hunger gehabt hätten und nicht länger hätten warten wollen. „Also kamen wir nicht umher, Pizza zu bestellen.“ Ich nickte verständnisvoll, bedankte mich überschwänglich für das großzügige Trinkgeld und hörte die Kinder jubeln, als ich zurück zum Auto stapfte und sich die Haustür hinter mir wieder schloss. Träge setzte ich mich in den warmen Wagen und machte mich auf den Rückweg zur – wie mein Chef zu sagen pflegte – Zentrale. Meine Befürchtung, den Rest des Tages Kartons falten zu müssen, weil niemand zu solch einer Zeit Pizza bestellen würde, bewahrheitete sich zum Glück nicht. Stattdessen ging die nächste telefonische Bestellung bald ein und ich machte mich samt Pizza Hawaii und Pizza Tonno auf den Weg Richtung Norden. Die Plattenbauten wirkten ohne Verkehr auf der Straße, ohne Menschen, die irgendwohin gingen oder irgendwoher kamen, und bei diesem trüben Wetter noch trister, als sie es ohnehin schon waren. Um der Kälte entgegenzuwirken, zappelte ich unentwegt, während meine Augen die Klingelschilder des Mehrgeschossers nach dem richtigen Namen durchforsteten. Eine genervte Stimme meldete sich, kurz nachdem ich ein Mal den silbernen Knopf gedrückt hatte. Der Summer ertönte, ich schlüpfte in das dunkle Treppenhaus und sah mich nach dem Aufzug um. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Fahrstuhl das Erdgeschoss erreicht und mich schließlich in die achte Etage befördert hatte. Bereits als sich die automatische Tür öffnete, schlug mir ein merkwürdiger Geruch entgegen. Eine Mischung aus kaltem Rauch, altem Frittenfett und nassem Hund. Bevor ich diesen Gedanken beendet hatte, hörte ich ein Bellen und erblickte einen Mann in Jogginghose, der in der Tür stehend auf mich zu warten schien. Auch er hatte das Bedürfnis, eine Erklärung für den Weihnachtsfeiertag-Pizza-Notfall loszuwerden. „Der Köter hat’n Brat’n jefressen … nu ham’wer halt Pizza bestellt.“ Ich murmelte sowas wie „kann ja mal passieren“, dachte mir aber etwas ganz anderes. Als hätte er seinen „Namen“ gehört, fing der „Köter“ in der Wohnung wieder an zu bellen. Tief und beunruhigend klang das. Und ich verspürte den Drang davonzurennen. Hastig bedankte ich mich für die paar Cent Trinkgeld, betätigte die Taste am Aufzug und war froh, dass dieser noch in derselben Etage verweilte. Draußen wirkte die Umgebung wie ausgestorben – noch ausgestorbener als vorhin, falls das überhaupt möglich war. Noch ein paar Mal hin und her und meine Schicht würde beendet sein. Doch die letzte Stunde in der Zentrale wollte nicht vergehen. Während ich mit dem Gedanken an Stollen und Lebkuchen versuchte, den Pizzageruch davon abzuhalten, mein Gehirn zu vernebeln, falteten meine Hände einen Karton nach dem anderen. Bis das klingelnde Telefon mich aus meiner Apathie riss. Mein Chef machte eine vielsagende Kopfbewegung. Wirklich? Kurz vor Dienstschluss? Wegen einer Pizza? In diesem Moment hasste ich diesen einen Menschen … ja, die gesamte Menschheit. Ich hasste Pizza. Und vor allem hasste ich Weihnachten. Das Auto war inzwischen ausgekühlt, ebenso wie meine Lust auf die Feiertage. Und der Blick auf die Adresse ließ meine Laune nicht besser werden. Selbe Prozedur wie vorhin? Wieder Plattenbau. Wieder der Geruch vom Qualm, altem Öl und Köter anstelle des Duftes von Zimt und Tanne? Sogar der Fahrstuhl ließ mich diesmal im Stich – hatte sich den Feiertag bestimmt auch verdient. Wie in Trance setzte ich einen Fuß vor den anderen und stieg hinauf in die fünfte Etage. Die Wohnungstür stand einen Spalt offen. Nachdem ich behutsam geklopft hatte, erschien ein alter Mann und bat mich einzutreten. Graue Haare, dicke Brille, ein kariertes Hemd und dunkle Cordhosen. „Kommen Sie doch rein“, forderte er mich erneut auf. „Ich hab‘ eben Eierpunsch gemacht – so, wie ihn meine Frau früher zubereitet hat.“ Er kicherte dabei und schob dann mit einem traurigeren Tonfall hinterher: „Nur zum Kochen hatte ich keine Lust. Wozu auch? Für mich allein …“ Noch bevor ich reagieren konnte, hatte der Herr in der Cordhose zwei Tassen aus dem Schrank geangelt und sie randvoll mit Eierpunsch befüllt. Vorsichtig balancierte er sie bis zum Couchtisch im Wohnzimmer und wies mir einen Platz im Sessel zu. Ein kleines, mit einer Lichterkette umwickeltes Bäumchen stand in der Ecke des Raumes und tauchte die Umgebung in ein warmes Licht. Auf dem Tisch entdeckte ich Weinbrandbohnen – wie früher bei Opa, daneben ein Teller übersät mit Weihnachtsplätzchen die aussahen wie die von Oma. Und im Hintergrund dudelte knisternd eine alte Schallplatte mit fröhlichen Weihnachtsliedern. Als der ältere Herr in der dunklen Cordhose die Pizza aus dem Karton holte, mir ein Stück auf einem Teller hinschob und seine Eierpunsch-Tasse zum Anstoßen erhob, spür-te ich, dass mein erst heute geborener Hass auf Weihnachten wieder verschwand und ich zum ersten Mal an diesem Tag nicht mehr fror.

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