Familienwandel

Familien verändern sich. Das ist nicht im Trend von Ein-Kind-Ehen oder gar Kinderlosigkeit ablesbar, sondern vor allem am Abstand der Generationen zueinander.

Das Schicksal des Staates hängt vom Zustand der Familie ab“ schrieb der Schweizer Theologe Alexandre Vinet (1797-1847). Aber wie sind die familiären Zustände heute, in einer Zeit fortschreitender Pluralisierung des Zusammenlebens. Eigentlich hielt der Begriff Familie aus dem Französischen kommend erst Ende des 17. Jahrhunderts allmählich Einzug in die deutsche Alltagssprache. Der Ursprung geht auf das lateinische Wort „famulus“ (Diener) und dessen Kollektivbildung „familia“ als die „Gesamtheit der Dienerschaft“ zurück. Allerdings scheint unser Blick auf die Verfassung der Familie häufig auf einer weit verbreiteten und verklärten Annahme zu beruhen, bei der es eine Entwicklung von einer vorindustriellen Groß- zu einer modernen Kleinfamilie gegeben hätte. Typischerweise sei bis vor 100 Jahren die Großfamilie das bestimmende Modell gewesen. Drei Generationen lebten zusammen unter einem Dach und seither hätte es eine lineare Verkleinerung der Familie gegeben, die bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist.

Heute ist klar, dass die Dreigenerationenfamilie der Vergangenheit nicht weit verbreitet, sondern eher die Ausnahme war. Familien im 19. Jahrhundert dürften eher kleinere Einheiten mit vier bis sechs Personen gewesen sein. Eine wichtige Ursache für die Kleinheit war sicherlich die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit. In manchen Zeiten und Regionen sind bis zur Hälfte der Kinder während ihrer ersten drei Lebensjahre verstorben. Dass die Familie ein Hort von Harmonie und Glück gewesen sein, kann getrost als Mythos bezeichnet werden. Knappheit und Not erzeugten zumeist keinen Harmonieraum, zu dem Familie bis heute romantisiert wird. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass die Familie verbreitet ein Ort von Konflikten, Gewalt und Unterdrückung war, unter der besonders Frauen und Kinder und nach der Hofübergabe auch Alte zu leiden hatten. Allerdings lässt sich unter einem entbehrungsreichen Dasein vermuten, dass sich unter wenig Erreichbarem leichter Glücksmomente und Zufriedenheit einstellen konnten.

 

Geburtenrate

Die existenzielle Basis hat sich in den vergangen 100 Jahren für die Mehrheit der Deutschen positiv verändert. Damit einher ging ein grundlegender Wandel im Zusammenleben von Paaren. Mit der Pluralisierung der Lebensformen ist eine beständige Verringerung durchschnittlicher Haushaltsgrößen zu beobachten. 2017 ist die durchschnittliche Haushaltsgröße in Deutschland erstmals unter den Wert von 2,0 gefallen. Vor dreißig Jahren betrug dieser Wert noch 2,7. Dieser Fall resultiert vor allem aus der Verringerung der Haushalte mit fünf oder mehr Personen und der Zunahme von Einpersonenhaushalten, insbesondere solchen von jüngeren Personen.

Während der Krisenzeiten in der Folge des 1. Weltkrieges als auch im 2. Weltkrieg war die Geburtenrate schon einmal auf dem Niveau von heute. Nur hat sich die Tendenz seit Anfang der 1970er Jahre verstetigt und ist gerade nicht auf Krisenereignisse zurückzuführen.

In Magdeburg ist der Wert für die statistische Haushaltsgröße sogar noch unter dem Bundesdurchschnitt. Er betrug 2016 nur noch 1,68. Zehn Jahre zuvor lag er bei 1,82. Insbesondere die Tendenz einer Versingelung bestärkt diese Entwicklung. Die Magdeburger Privathaushalte stiegen von 2006 (125.500) bis 2016 (138.400) um 12.900. Während man 2013 noch 9.000 Vier- und Mehrpersonenhaushalte zählte, sind es jetzt nur noch 7.800. Wohnungen mit drei Personen sanken im selben Zeitraum um 2.000 auf 11.200. Einzig bei den Zwei-Personenhaushalten gibt es einen ganz leichten Trend nach oben bzw. mit zuletzt 46.300 Wohnungen mit zwei Personen eine gewisse Stabilität. Die eigentliche Steigerung findet man bei den Single-Haushalten. Waren das vor zehn Jahren noch 56.600. Lebten 2016 schon 73.100 Menschen allein.

Neben einer Vereinzelungstendenz verändern weitere Faktoren das Funktionieren von Familien. Das durchschnittliche Heiratsalter von Frauen ist mit 26,1 Jahren 1991 auf nun 31,5 Jahre gestiegen. Das von Männern kletterte im selben Zeitraum von 28,5 auf 34 Jahre. Mütter haben in Deutschland im Durchschnitt bei der Geburt ihres ersten ehelichen Kindes bereits das 30. Lebensjahr überschritten und sind damit rund fünf Jahre älter als noch vor dreißig Jahren. Gegenwärtig hat jedes vierte Neugeborene eine Mutter, die 35 Jahre oder älter ist. Die Folge: durch den fortschreitenden biografischen Aufschub von Elternschaft erhöht sich das Risiko ungewollter Kinderlosigkeit. Demografisch wächst damit der Abstand zwischen den Generationen mit erheblichen Folgen für die Bevölkerungsstruktur. Sind Mütter im Durchschnitt bei der Geburt ihrer Kinder 25 Jahre alt, werden in einem Jahrhundert vier Generationen geboren, sind sie dagegen 33 Jahre alt, sind es nur drei Generationen.

 

Familienformen mit Kindern in Deutschland. Quelle: Statist. Bundesamt

Diese Entwicklung wirkt sich auf die Verfasstheit der Gesellschaft aus. Man muss annehmen, dass Eltern, die erst ab Mitte 30 ihren ersten Nachwuchs bekommen, tendenziell vorsichtiger und risikoärmer mit ihrem Kind umgehen. Entscheidungen fallen weniger spontan, werden dagegen sicher lange abgewogen. Genau solche Erscheinungen werden sehr wahrscheinlich im späteren Verhalten nachwachsender Generation sichtbar. Fraglich ist, ob darunter Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft und Konfliktbewältigungsstrategien tendenziell schwächer ausgeprägt werden.

Im Fall von elterlicher Pflegebedürftigkeit könnten deren Kinder dadurch noch mit der Betreuung ihres Nachwuchses beschäftigt sein. Das führte öfter zu einer nicht leistbaren Doppelbelastung. Überhaupt müssen wir uns nicht nur wegen der höheren Lebenserwartung, sondern vor allem wegen des wenigen Nachwuchses auf veränderte soziale Umfelder im Alter einstellen. Kinderlose, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, die nicht zur natürlichen Reproduktion der Gesellschaft beitragen, verlassen sich auf staatliche Versorgungsregelung. Selbst bei Ein-Kind-Familien können Eltern sicher nicht in derselben Weise auf familiäre Zuwendung hoffen, wie bei mehreren Kindern. Natürlich verändern sich darunter generell verwandtschaftliche Verzweigungen. Fehlen Geschwister werden auch keine Onkel, Tanten, Nichten oder Neffen hervorgebracht. Familienbande lösen sich also nicht nur in direkter Blutsverwandtschaft ersten Grades auf, sondern ebenso innerhalb anderer Familienbeziehungen. Es ist gut, dass Lebensentwürfe heute vielgestaltig sein können. Wer dabei jedoch vorwiegend den eigenen Nutzen oder persönliche Bedürfnisse im Auge hat, vergisst, dass diese letztlich auf dem Fundament gesellschaftlicher Früchte vieler Generationen bauen. Nach eigener Facon leben zu wollen, heißt zu wissen, unter welchen Bedingungen dies ermöglicht wurde. Das war einst andere Familienzustände. Thomas Wischnewski

Zurück