Familienbande

Noch nie in der Geschichte der Menschen existierten so viele verschiedene Möglichkeiten für Lebensentwürfe. Aber auch die Ansprüche an Partner und Kinder veränderten sich. All das rührt am gesellschaftlichen Wandel mit, bringt Vor- und Nachteile.

Der Familienverlauf von Menschen ist Teil ihres Lebenslaufs und einer der wesentlichen, prägenden Phasen im Heranwachsen. Die Familie unterliegt nach wie vor einem tiefgreifenden Wandel. Manche Probleme, die wir heute als solche identifizieren, rühren aus Veränderungen der Familienbande. 1993 lebten in Magdeburg 132.209 verheiratete Menschen (Gesamtbevölkerung: 271.813). Fast die Hälfte waren also Eheleute. Als ledig registriert waren damals 99.090 Einwohner. Im Jahr 2017 betrug der Anteil 90.326 Verheiratete, das entspricht nur noch 37,4 Prozent (Gesamteinwohnerzahl: 241.769). Während also die ehelich Gebundenen um über 10 Prozent abnahmen, stieg der Anteil der Ledigen um diesen Wert. Innerhalb von zehn Jahren (2007 bis 2017) sank die Zahl der Drei-Personen-Haushalte von 15.400 auf 12.100. Während Familien mit zwei oder mehr Kindern von knapp 10.000 Haushalten 2016 mit 7.800 einen Tiefpunkt erreichten. Heute existieren wieder 9.200 Haushalte mit vier und mehr Personen.

Was lässt sich aber aus solchen Zahlen wirklich ablesen? Der Mangel an Pflegekräften, die geringe Zeit an Zuwendung, die im System der Pflege dauerhaft angeprangert werden, finden ihre Ursachen in Wandel familiärer Situationen. Trotz hoher Kindersterblichkeit lag die statistische Personenanzahl in Deutschland um 1900 bei 4,7 Prozent. Der aktuelle Magdeburger Wert beträgt 1,7 Prozent. Im Prinzip hat sich die komplette Pflege aus dem Umfeld der Familie gelöst und wird heute vielfach einem staatlich organisierten System überlassen. Die Verantwortung am Mangel wird dem Staat angelastet, ohne den Anteil moderner Lebensentwürfe dabei mitzudenken. Unter einem Anwachsen von Ein-Kind-Haushalten sterben in solchen Kleinfamilien verwandschaftliche Verhältnisse von Tanten und Onkel aus. Wenn heute häufiger ein Erodieren von Zusammenhalt beklagt wird, kann man davon ausgehen, dass solche Wahrnehmungen auch mit der Verkleinerung von Verwandtschaftsverhältnissen zu tun hat.

Der Auszug der Kinder aus dem Elternhaus bzw. deren Eheschließung markierte lange Zeit den Beginn des Familienzyklus in der Kindergeneration. Die Abfolge der Familienphasen wurde daher nahtlos von einer Generation an die nächste weitergereicht. Dem Familienzyklus entsprach im Übrigen eine ebenso klare und verlässliche Struktur im beruflichen Bereich und Einkommenserwerb. Für die heutige Zeit gilt das nicht mehr. Das Modell beschreibt am treffendsten die Zeit der 1950er und 1960er Jahre. Die traditionelle Abfolge, zu der neben Ausbildungsabschluss und Berufsstart oder eben Heirat und Geburt eines Kindes gehörten, haben an Bedeutung verloren. Der Anteil nichtehelicher Geburten steigt beständig. In Ostdeutschland ist eine nichteheliche Familiengründung zum Normalfall geworden. Die Ehe wird kaum noch als Voraussetzung für eine Elternschaft angesehen und eine Elternschaft ist selten Anlass zu heiraten.

Es zeichnet sich ebenfalls ab, dass das Verhältnis zwischen Privatleben und beruflichen Bereichen komplizierter geworden ist. Vor allem für Frauen sind die Lebenswege im Vergleich zu früher weniger vorgezeichnet. Lebensformen, die das Bestreben beider Partner, erwerbstätig zu sein, gefährden könnten, gelten vielfach als unattraktiv. Der Wechsel zwischen Familienphasen und Erwerbsphasen erfolgt bei Frauen rasanter. Man könnte heute schlussfolgern, dass die Familie zwar ideales Wunschbild für den persönlichen Alltag geblieben ist, zugleich jedoch ein biographisches Problem geworden zu sein scheint. Mit Ehe und Familie werden starke, langfristige Folgen und Bindewirkungen verbunden. Von daher werden solche Entscheidungen noch sorgfältiger überlegt. Da kaum abgeschätzt werden kann, was auf einen zukommt, halten sich viele junge Menschen gegenüber einer eigenen Familie zurück. Sie schieben die Geburt eines Kindes aus unterschiedlichsten Gründen immer wieder auf. Als Folge steigt das Alter bei der Familiengründung weiter an. Und diese Tendenz wirkt, obwohl Menschen von heute im Gegensatz zu ihren Vorgenerationen noch über ein historisch einzigartiges Freizeitpotenzial verfügen. Theoretisch dürfte es an der Zeit für das Kinderversorgen oder elterliche Pflege nicht mangeln.

Es ist auch nicht zu kritisieren, dass Ehestabilität heute stärker davon abhängt, wie hoch für einen oder für beide Partner die wahrgenommene Qualität ihrer Beziehung ist oder auch wie attraktiv im Vergleich dazu das Alleinleben oder die Beziehung zu einem anderen Partner bewertet werden. Der hohe Wert an Emotionalität trägt oft dazu bei, dass Trennungen und Partnerwechsel zur Normalität geworden sind. Auch diese Entwicklung verschiebt Familienbande in ein höheres Lebensalter.

Logischerweise kann man aus den allgemeinen Angaben keine individuellen Lebensbedingungen ablesen. Doch muss zumindest der gestiegende Anspruch nach Selbstverwirklichung und ausfüllenden Lebensinhalten als eine mögliche Ursache für späte Familiengründungen und steigende Geburtsalter angenommen werden. Menschen gestalten also ihr Familienleben im weitesten Sinne nach dem Prinzip, für sich das nach den eigenen Maßgaben Bestmögliche erreichen und sichern zu wollen. Unter diesen Vorstellungen wollen Eltern natürlich für ihre Kinder das Beste. Wenn daraus häufiger Ein-Kind-Partnerschaften oder gar kinderlose Paare hervorgehen, muss deutlich gesagt werden, dass diese Entwicklung den heranwachsenden Generationen aus dem noch existierenden Generationenvertrag für Renten und Gesundheitsversorgung eine gewaltige Last aufbürdet. Die Ansprüche, die aus dem deutschen Sozialstaat hervorgegangen sind, haben sich in der Art von „naturgesetzlichen“ in die Köpfe des aktuellen Deutschlands eingenistet. Von daher ist auch die Hoffnung zu verstehen, dass eine verstärkte Einwanderung für zahlenmäßigen Ersatz bei den Einzahlern in die Sozialsysteme sorgen könnte. Das wird sicher auch unter starken Integrationsbemühungen möglich sein. Und dennoch darf nicht vergessen werden, dass sich Familienwandel in Deutschland und die vielen möglichen Lebensentwürfe seit den 1960-Jahren herausgebildet haben. Migranten aus anderen Kulturkreisen bringen vielfach ein noch engeres Familienbild mit, das eine höhere Motivation für Gründung und Zusammenhalt eigener Familienbande hervorbringt, als sich möglicherweise gesamtgesellschaftlich einzubringen. Auch solche Trends müssen wir heute mitdenken, wenn wir an die sich wandelnden Familienverhältnisse denken.

Eine Schlussfolgerung aus allem ist, dass es in Deutschland im Hinblick auf die Kinderzahl eine Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit gibt. Sie dürfte umso größer sein, je höher das Bildungsniveau bie Frauen und Männern ist. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass bis heute auch Männer mit einem niedrigen Ausbildungsniveau zu einem hohen Anteil kinderlos bleiben, weil sie nicht die Gewähr bieten, eine Familie ernähren zu können. (tw)

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