Es herbstet
Während die Nordamerikaner ihren Herbst als „Indian Summer" verkaufen, haben wir Europäer mit der dritten Jahreszeit ein Problem. Sicher nicht, weil hierzulande das Rot des Zuckerahorns fehlt, das die amerikanischen Wälder im Herbst so werbewirksam auszumalen weiß. Eher fehlt es uns an der Lust, im Sterben etwas Schönes zu sehen. Nämlich, wenn sich das Zeitliche anschickt, die Blätter altern und schließlich fallen zu lassen. Eine moribunde Schönheit ist das, der wir da begegnen. Die Zellen in den Blättern aktivieren eine Art von Selbstmordprogramm, das ihnen über alle möglichen farblichen Nuancen hinweg zuerst das Grün nimmt und dann das Leben.
Das Grün rührt von dem Chlorophyll, dem auch „Blattgrün“ genannten Farbstoff. Dieses Chlorophyll fängt alles weg, was das Spektrum des Sonnenlichtes zu bieten hat, bis eben auf das Grün. Das Chlorophyll bildet das Herzstück einer Stoffwechselkette, die per Fotosynthese den Aufbau von Zucker aus Sonnenlicht, Wasser und Kohlendioxid ermöglicht. Der so gebildete Zucker wiederum ist Grundstoff für alle sonstigen Produkte, die den Pflanzenkörper ausmachen, unter ihnen Eiweiße, fettähnliche Lipide der Zellmembranen, auch die eigentlichen Fette und viele, viele Stoffwechselzwischenprodukte. Hinzu kommen tausende andere chemische Verbindungen, sogenannte sekundäre Pflanzenstoffe. Ganz wesentlich dienen sie der Abwehr von Fremdorganismen, gewissermaßen als Äquivalent für das Immunsystem, das bei uns diese Aufgabe übernimmt. Die Pflanze lebt von der Fotosynthese und all den kunstvoll anmutenden, hochkomplexen biochemischen Folgereaktionen. Mittelbar leben hiervon auch die Tiere. Und wir, wir Menschen. Entweder leben wir direkt von Pflanzen und ihren Produkten oder von Tieren, die von Pflanzen leben. Mitunter auch von Tieren, die von Tieren leben, die von Pflanzen leben. Auch Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, sollten Sie sich jemals an Hecht oder Krokodilfleisch gelabt haben.
Zurück zum Herbst: Wenn das Blattgrün abgebaut wird, bleiben die gelblichen Carotinoide und deren Abkömmlinge übrig, die Xanthophylle. Je nach Pflanzenart erscheint auch die Farbe Rot. Ursache ist die Synthese von Anthocyanen, wie sie z. B. dem Rotwein die Farbe geben und den Kirschen, Heidel- und Brombeeren und dem Usambara-Veilchen. Warum in den Blättern kurz vor Toresschluss noch Anthocyane synthetisiert werden, weiß bis heute niemand genau zu sagen. Braun werden die Blätter dann, wenn den Resten des Chlorophylls das Magnesium entzogen wird und oxidierte Gerbsäuren farblich die Vorherrschaft übernehmen. Dann ist das Blatt mausetot. Der Baum aber lebt weiter, hat die wichtigsten der Inhaltsstoffe aus den gilbenden Blättern übernommen und wartet auf den nächsten Frühling, in dem er wieder neue Blätter erzeugt. Chloropyllhaltige natürlich.
Was für eine Metapher: Der Tod als Voraussetzung für neues Leben! Das Alte stirbt ab und macht Platz für das Neue. Leicht lässt sich das mit dem Sterben dahinsagen. Doch es betrifft eben nicht nur das Leben als solches, sondern in härtester Konsequenz jeden Einzelnen von uns. Und wir, wir sind nicht einfach nur irgendwelche Lebewesen, vergleichbar einem Darmbakterium, einem Frosch oder einem Apfelbaum. Nein, wir sind mit Denkfähigkeit ausgestattete Wesen, wir gehören in den Kronenbereich der Evolution, sind Individuen, die ein Ich-Empfinden entwickelt haben und für die es die denkbar größte Katastrophe bedeutet, dieses Ich einst aufgeben zu müssen. Jeder von uns ist ein Ich, an dem er sehr hängt und das er tief inniglich liebt. Doch da ist kein Ausweg, jeden trifft es, der Evolution wohnt dieses Prinzip inne. Unerbittlich. Metaphorisch weisen die Herbsttage unseres Lebens darauf hin. Trost, wenn überhaupt möglich, bieten Fiktionen, solche von einem Weiterleben nach dem Leben zu Beispiel. Auch die Verdrängung, etwa in der Art: Abwarten und Tee trinken – oder Mineralwasser mit Bio-Siegel oder Rotwein. Prof. Dr. Gerald Wolf