Endstation Liebe? Liebe dich lieber selbst!
Manchmal scheint es, als könne der Großteil der Menschen nicht allein sein. Also gar nicht. Zugegeben, niemand fühlt sich gern einsam. Aber es geht nicht um das Gefühl von Einsamkeit, sondern die physische Nicht-Anwesenheit eines anderen. Darum, im Alltag Dinge allein zu erledigen, auch nach Feierabend mal für sich zu sein und auch keine anderen Menschen um sich haben zu wollen. Nicht aus Misanthropie, sondern um die eigene Gesellschaft zu genießen, scheint enorm selten geworden zu sein. Früher dachte ich, das wäre etwas für Leute, die sich mit dem Gedanken abgefunden oder gar angefreundet haben, für immer allein zu sein. Einsame Seelen, die eben nicht dem kollektiven Verständnis von attraktiv oder anziehend entsprechen. Inzwischen hat sich diese Idee verflüchtigt.
Zurück zum Eindruck, dass fast jeder ständig auf der Suche nach einer Beziehung ist, sei die alte auch erst fünf Minuten vorbei – oder noch gar nicht. Es scheint oft, als wäre das Singledasein ein No Go. Ein gutes Beispiel dafür liefern Familienfeiern. Sobald ein Familienmitglied im geschlechtsreifen Alter ist, beginnen die unangebrachten und viel zu persönlichen Fragen von Tanten und Omas, die sich ohne den obligatorischen Aperol gar nicht in diese intime Sparte der Fragerei begeben würden. Es kommen Fragen auf wie: „Naaa…Wie läuft es denn mit den Männern?“ oder „Und, du bist heute ohne Begleiter da?“. Ein Schelm, wer da einen urteilenden Unterton oder mitleidigen Blick mitzuschwingen vermutet. Und schließlich, beim Anblick des Neugeborenen eines Cousins der K. o. bringende Seitenhieb: „Und wann willst du mal Kinder haben?“
Jesus Christus! Das seien nun mal Fragen, die sich die Familie eben stellt. Dieselbe Familie, die aber nicht einmal deinen Vornamen richtig schreibt und selbst durchsetzt ist von Beziehungskrisen, Intrigen, und in Rosenkriegen endenden Beziehungen. All das wird natürlich nicht ausgewertet bei der jährlichen Familienfeier. Hierher kommt nur mit einem guten Gefühl, wer gerade geheiratet, ein Baby bekommen oder mehrere Kinder, ein Haus gebaut oder ein neues Auto hat. Mir stellt sich in dieser Situation, über meinen Weißwein hinweg, die Frage, warum all das so erstrebenswert sein soll. Ich sehe Familien, Freunde und Bekannte von Freunden, auf deren vermeintlich sonniges liebestolles Gemüt sich nach einem hektisch wirkenden Balztanz und der anfänglichen Euphorie stets relativ schnell der Schleier der Ernüchterung legt. Wer damit nicht klar kommt, fängt oft an im eigenen Umfeld Unmut zu streuen, mit dem eigenen Freundeskreis Puppentheater zu spielen, um von der eigenen Unfähigkeit eine „gute“ Beziehung zu führen abzulenken. Eine Beziehung, die sich zur Repräsentation des eigenen Lebens auf Familientreffen eignet.
Ich will nicht sagen, dass sich niemand je auf eine Beziehung, die Liebe einlassen sollte. Zwar gäbe es dafür natürlich reichlich Argumente: fehlendes Vertrauen oder Schwierigkeiten ein solches aufzubauen, der schier unerschöpfliche Pool von Möglichkeiten, sei es in der Dating-Welt oder im Job oder etwa der Kampf zwischen dem Prioritätensetzen für die Karriere und dem Wunsch nach einem erfüllten Liebesleben. Aber es geht eher darum, dass es nicht für jeden zu jeder Zeit im Leben das Richtige ist, eine Beziehung zu haben. Sicher, Menschen brauchen andere Menschen. Zuneigung, Unterstützung und Wärme. Aber bedeutet das, sich blindlings in ein Konstrukt steuern zu müssen, um sich daraufhin unaufhörlich selbst umzustrukturieren?
Ist dieses wohlige Gefühl, in einer neuen Beziehung zu sein, nicht ein trügerischer Akt von Mutter Natur, die uns dazu bringen will, uns fortzupflanzen? Und müssen wir uns dem unterwerfen? Ist es hingegen verwerflich, sich nicht in jede Möglichkeit auf eine Beziehung zu verlieben, sondern innezuhalten, bevor man sich blindlings hineinstürzt? Der Zeitpunkt allein ist nicht entscheidend. Sondern der Status Quo der eigenen Wahrnehmung und die Fähigkeit zur Selbstreflektion. Bin ich der Mensch, der ich sein will? Muss ich noch zu viel lernen und wachsen, um „bereit“ zu sein? Oder kann man tatsächlich nie bereit sein?
Die Scheidungszahlen des vergangenen Jahres zeigen, dass viele Paare bereits nach wenigen Jahren (zwei bis sieben) wieder getrennte Wege gehen. Danach pegeln sich die Zahlen um die Tausendermarke ein und bleiben bis zu einem gewissen Zeitpunkt relativ konstant. Zumindest bei den Paaren ohne minderjährige Kinder. Hier zeigt sich, dass viele (19704 Paare im Jahr 2018) nach 26 Jahren oder sogar mehr, noch den Schritt zum Scheidungsanwalt wagen. So viel also zu „bis dass der Tod uns scheidet“. Nur eine dreiste Versprechung, dessen Leere einem schon im Moment des Ringansteckens klar ist, oder die Spiegelung der Blindheit, die diese Liebe mit sich bringt?
Doch es zeigt sich auch ein Anstieg an Eheschließungen, sowohl in Sachsen-Anhalt als auch in Magdeburg. In unserem Bundesland gaben sich 1997 noch etwas mehr als neuntausend Paare das Jawort, knapp 950 waren es in Magdeburg. Zehn Jahre später erlebte die Landeshauptstadt zwar einen kleinen Einbruch an Eheschließungen, jedoch waren es schon mehr als zehntausend im ganzen Bundesland und im letzten Jahr über 11.370 Paare. Wagen sich also noch mehr liebestolle Marionetten an den Altar, um im Anschluss viel Geld auszugeben, damit sie und ihre Freunde – allesamt total overdressed – sich betrinken können?
Zum Glück ist weder die Entscheidung für eine Beziehung – beziehungsweise Ehe – noch dagegen offenbar eine Entscheidung mit Langwierigkeitsfaktor. Es kommt mal wieder darauf an, was man daraus macht. Wie viel man bereit ist zu arbeiten, an sich selbst allein oder der neuen Beziehung. Es gibt keine Formel für den perfekten Zeitpunkt oder den idealen Partner für alle Zeit. Vielleicht ist deshalb der Begriff Lebensabschnittsgefährte eine zugegebenermaßen unromantische, aber treffendere Umschreibung der „großen Liebe“. Denn wie so vieles im Leben sind Beziehungen oft temporär, über lang oder kurz. Strebenswert ist eine Einstellung, die beides akzeptieren kann. Entgegen der Norm á la Familiengericht. Das Singledasein darf ebenso wertgeschätzt werden wie das Führen einer Beziehung. Denn an sich selbst zu arbeiten und sich selbst zu lieben, kann schwieriger sein, als die Projektion der romantischen Liebe auf jemand anderen. Swantje Langwisch