Ein Leben, ein Irrtum?
Günther Schmidt (Name geändert) wird 1927 in einem Vorharzort geboren. Sein Vater ist Handwerker, die Mutter – heute würde man sagen – Familienmanagerin. Vom großen Krieg, dessen Ende neun Jahre zurückliegt, kann er noch nichts wissen, genauso wenig wie über Umbrüche und die Gründung der Weimarar Republik. Das Leben in seinem Umfeld schwankt nicht in derselben Zerrissenheit wie beispielsweise das in Berlin. Auch die spätere Weltwirtschaftskrise ist für den kleinen Günther noch kein bewusstes Ereignis. Er wächst unter der Desavouierung der ersten deutschen Demokratie, von Parteien und Presse auf. Die Weimarer Republik war ein unfähiger Staat. Wenn es gut werden soll, müsse sich alles ändern. Das sind Gesprächsfetzen, die er Anfang der 1930er Jahr im Elternhaus mitbekommt.
Im Jahr 1933, als Adolf Hitler deutscher Kanzler wird und wenig später per Ermächtigungsgesetz die absolute Macht im Staate an sich reißt, wird Schmidt eingeschult. Die „zahnlose Republik“ war überwunden und „Deutschland erwacht“. Rassentheorie und Heroisierung des so genannten Arischen wird im Unterricht vermittelt wie Schreiben, Mathematik, Physik und Chemie. Als die Wehrmacht in Polen einmarschiert, ist Günther Schmidt zwölf Jahre alt. In diesem Alter träumt man oft von Heldentaten und lässt sich von solchen Erzählungen faszinieren. Als er Ende 1944 mit 17 Jahren zur Waffen-SS eingezogen wird, ist vom deutschen Heldentum nicht mehr viel übrig. Schmidt wird nicht freiwillig Soldat und Angehöriger dieser Einheit. Vom letzten „Kanonenfutter“ ist längst die Rede. Seine kurze Kampferfahrung hinterlässt manches Trauma, weil er zerfetzte Leiber, Tod und Zerstörung hautnah mitansehen muss. Es folgt Kriegsgefangenschaft, zunächst im Konzentrationslager Dachau, dann in England.
1947 kehrt Günther Schmidt aus der Gefangenschaft in die sowjetische Besatzungszone zurück. Die Schrecken der Vergangenheit mit ihren verheerenden Folgen sind ihm bewusst. Die Zahl der Toten auf allen Seiten, das Leid der anderen und das eigene liegen vor ihm. Solche Verbrechen, wie sie die Nazionalsozialisten angezettelt haben, dürfen sich nie wiederholen. In der Heimat versucht er beruflich Fuß zu fassen. Schmidt wurde als Neu-Lehrer gebraucht. Junge Menschen zu unterrichten, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen – das war für ihn Motivation genug, sich einer neuen Zeit zu stellen. Was er in dieser Phase mit viel Pragmatismus und Improvisation noch nicht erkennt, ist, dass eine Ideologie nur die andere ablöst. Ein Mensch muss leben, sich den Möglichkeiten und Bedingungen stellen, Arbeit leisten, eine Familie gründen und eigene Kinder aufziehen.
Die Gesellschaft taugt nicht mehr für die Zukunft
Die DDR ist der Staat, in der Günther Schmidt sein Berufsleben meistert. Er kann eine kleine, ganz normale Existenz bestreiten. Ein Fortkommen über die Tätigkeit als Pädagoge hinaus gibt es für ihn nicht. Der Makel der sechs Monate Waffen-SS-Zugehörigkeit bleibt irgendwie an ihm haften. Wie alles gewesen sein soll, steht in den Geschichtsbüchern. Über den realen Alltag, tatsächliche Zwänge, Ängste und Beweggründe von Millionen Deutschen erfährt man kaum etwas. Sie sind in der Rückschau nur „Mitläufer“ und damit Unterstützer der Verbrecher.
Im Jahr 1989 taugt die Gesellschaft, die sich über den Hitler-Faschismus errichtet hatte, nicht mehr für die Zukunft. In Ungarn fällt ein Grenzzaun, DDR-Bürger besetzen die Prager Botschaft der BRD. Tausende wollen ausreisen oder nur reisen, um an den modernen Möglichkeiten des Lebens teilzunehmen. Die Berliner Mauer fällt und nach nur elf Monaten fliegt der Staat DDR auf den Schrotthaufen der Geschichte. Günther Schmidt ist da 63 Jahre alt. Er erlebt, wie neue Geschichtsbücher Einzug halten und über allem die Erzählung vom zweiten deutschen Unrechtsstaat ausgeschüttet wird. Als Lehrer ist er Staatsbediensteter, also ein Unterstützer der sozialistischen Doktrin oder zumindest wieder ein Mitläufer. Bis zum gesetzlichen Ruhestand kann er weiter unterrichten. 1992 scheidet er aus und bezieht eine kleine Rente. Er klagt nie über seine existenzielle Situation. Ein Auskommen bis auf die Entbehrungsjahre in Gefangenschaft und Nachkriegszeit hatte Günther Schmidt immer, auch heute mit 92 Lebensjahren.
Nun liegt der Mauerfall 30 Jahre zurück. Man wollte annehmen, dass sich in drei Dekaden viel geändert hat. Und die Auflistung kann in der Tat lang sein. Die Infrastruktur wurde modernisiert oder neu errichtet, einst dem Zerfall preisgegebene Innenstädte und Dörfer erscheinen heute wieder in baulichem Glanz. Auch wenn die Wirtschaftskraft in ostdeutschen Landstrichen vielfach nicht mit der westdeutscher Regionen mithalten kann – wer die Fassaden und Risse am Ende der 1980er Jahre noch im Gedächtnis hat, kann die Umwälzungen vielerorts bestaunen. Äußere Veränderungen sind jedoch noch keine inneren. Was ein Mensch gelebt, gefühlt und bewusst verinnerlicht hat, ist kein Geschichtsbuch, dass man einfach umschreibt, weil sich von heute auf morgen die Lehren über eine Zeit ändern.
92 Lebensjahre von Günther Schmidt entsprechen weit über 2,9 Milliarden gelebte Sekunden. Kein Geschichtsbuch der Welt vermag den Schatz von so vielen erfahrenen Momenten zu erfassen. Die Geschichte richtet, sagt man. Doch sind es Menschen, die Ereignisse und Analysen aneinanderreihen und Bewertungen abgeben. Für Schmidt war es ein Glück, dass er den Krieg überlebt hat, wichtig, dass er eine Chance hatte, wieder zu arbeiten sowie mit und für eine Familie zu leben. Hatte er wirklich die Möglichkeit, sich für ein anderes Leben zu entscheiden? Breitete sich nicht alles von Augenblick zu Augenblick auf einem rechtlichen Rahmen vor ihm aus. Kann das jeder sofort und stets historisch auf gut und richtig prüfen? Historiker haben es leicht. Sie müssen keine Zukunft planen, sondern arbeiten sich am vergangenen Geschehen ab. Doch wird das Zurückliegende stets in einen großen politischen, sozialen und ökonomischen Rahmen eingebettet. Die Mikrorealität eines Menschen wird darunter nicht sichtbar.
An der Gegenwart der Deutchen zerren Geschichtsdeutung und Orakel über die Zukunft. Beide Perspektiven fußen auf düsteren Erzählungen. Einerseits werden aktuell kritische Meinungen in den geistigen Brunnen der Nazis geworfen, andererseits der Untergang der Menschheit prophezeit, weil wir leben wie wir leben. Über Ungerechtigkeit muss sich immer Gerechtigkeit erheben. Doch wie organisiert man diese? Die Idee vom gesellschaftichen Eigentum macht wieder die Runde. Und natürlich muss davor gewarnt werden, weil die Geschichte der realisierten Versuche Leid, Ungerechtigkeit und in Russland, China oder Kambodscha Millionen Tote hinterlassen hat. Die kapitalistische Produktionsweise ist des Übels Kern, so ruft man es tausendfach. Und wieder ringt man mit historischen Begriffen und Erfahrungen, wie denn eine bessere bezeichnet und umgesetzt werden könn-te. Nachhaltigkeit und Klimaschutz sind zwei Grundvokabeln unserer Tage, die erklären sollten, wie sich die negativen Folgen unserer Lebensweise auf die Umwelt zum Guten wenden könnten. Die Begriffe können so wenig, wie die Worte Sozialismus oder Demokratie. Im ganz konkreten täglichen Tun von Millionen – wenn man vom Klimaschutz redet geht es gar Milliarden von Menschen an – realisiert sich die Gegenwart mit ihren Folgen für die Zukunft.
Die Geschichte vom Menschen als dem guten Wesen
Junge Menschen beschimpfen alte dafür, wie die sich in ihrem Leben verhalten haben, dass sie Autos mit Verbrennungsmotoren nutzen oder noch schlimmer einen SUV fahren. Wer nicht für Windräder demonstriert, ist Schuld am Klimawandel und damit am Weltuntergang. Alles, was wir so täglich tun, führe in die Katastrophe. Wieder sind wir irgendwie nur Mitläufer, die den Propheten nicht folgen wollen. Das sind Erzählungen unserer Tage. In Syrien geht der Krieg weiter und verschärft sich durch das Eingreifen der Türkei. Kurden hierzulande gehen auf die Straße. Wir Deutschen zeigen uns betroffen, aber halten uns gegenüber dem Nato-Verbündeten zurück. Vielleicht sind im Nahen Osten ein paar Hunderttausend Kämpfer in den heißen Krieg involviert und weitere Hunderttausende flüchten vor der Tötungsmaschinerie. Die Menschengemeinschaft kann das nicht einfach stoppen. Doch es geistert die Vorstellung herum, dass wir viele Millionen oder gar Milliarden Menschen in ihrem Alltag steuern können, dass man ihnen neue Verhaltensregeln verordnen und Ressourcenverbrauch vorschreiben kann.
Die Geschichte vom Menschen als dem guten Wesen lässt sich aus der Vergangenheit kaum herauslesen. Gut kann er im Kleinen sein, im gegenseitigen Meistern des Lebens, bei der Hilfe in Notlagen und im Beistand in schwierigen Zeiten. Aber im Großen, in einer weltumspannenden Vision, die Menschheit in eine angeblich bessere Zukunft zu führen, haben sich solche Ideen meistens als extrem destruktiv erwiesen.
Folgt man dem Lebensfaden von Günther Schmidt hat er ausschließlich Schuld auf sich geladen. Er war kein Widerständler gegen die Faschisten, er war kein Gegner der DDR und die Lebensweise in der Konsumgesellschaft hat er nicht bekämpft. Eigentlich gehört er mit seinem Dasein auf den Müllhaufen der Geschichte, so müsste man schlussfolgern. Aber mit seiner Erfahrung, die fünf deutsche Staatsgebilde überspannt, weiß er, dass die Zeit, in die man hineingeboren wurde, nur Schicksal ist, dass die Freiheit, sich für das eine oder andere zu entscheiden, eine schöne Erzählung ist und die Mühen des Alltags die Momente bestimmen. Der Kopf eilt mit seinen Gedanken gern in die Zukunft und glaubt vielfach daran, dass manche Idee Wirklichkeit würde. Doch meistens wiegt die Realität schwerer als jede schöne Vorstellung. In den Geschichtsbüchern findet Günther Schmidt sein Leben nicht. Es erscheint ihm unter der Erzählung von Theoretikern, Politikern und Ideologen oft wie ein einziger Irrtum. Aber er hat sich nicht geirrt, sondern tatsächlich gelebt. Es geht ihm nie um die Relativierung von Verbrechen. Doch eine Chance, nicht im falschen Leben sein zu können, hatte er nicht. Über Betroffene urteilen meist Nichtbetroffene. Schließlich sagte man ihm immer erst danach, dass er im falschen Staat gelebt hat. Es tut ihm für die anderen von Herzen leid, aber ändern hätte er es unter den täglichen Mühen und Zwängen kaum können. Thomas Wischnewski