Die schöne Blonde aus Stadtfeld
Der Magdeburger Stadtteil Stadtfeld ist nicht so stark von Industrie geprägt wie andere Gebiete der Landeshauptstadt. Dennoch gab es in der Vergangenheit auch hier Ansiedlungen von Fabriken, beispielsweise im Bereich der Zuckerverarbeitung. Lüder Bruse, Diplom-Ingenieur und lange Zeit als Zuckertechniker tätig, kennt sich auf diesem Gebiet sehr gut aus. Der 81-Jährige, der aus Coswig stammt, arbeitete u.a. in Wismar und später in der Zuckerraffinerie Magdeburg in Sudenburg. „Altersbedingt habe ich aufgehört, aber um als Rentner nicht zu versauern, habe ich mich mit der Zuckerhistorie in Magdeburg und in der Börde beschäftigt“, erklärt Lüder Bruse, der aufgrund seiner Kenntnisse und seines umfangreichen Archivs gemeinsam mit Guntwin Bruhns 2005 das Buch „Magdeburg, Zentrum des Rübenzuckers, 1839 bis 1939“ verfasst hat.
Erwähnung findet beispielsweise die Rübenzu-ckerfabrik „Rudolph und Bode“, die im Wilhelmstädter Feld (Harsdorfer Straße) angesiedelt war. Als Teilhaber werden Carl und Friedrich Rudolph sowie der Fabrikant Stephan Bode genannt. Im Jahr 1858 hatte das Unternehmen, das als Betreiber von vier Dampfkesseln Mitglied im Magdeburger Verein für Dampfkesselbetrieb war, 146 Beschäftigte und unterhielt eine firmeneigene „Fabrikkrankenkasse“. Bei Recherchen, u.a. im Stadtarchiv, hat Lüder Bruse herausgefunden, dass im Jahr 1870 die tägliche Rübenverarbeitung bei 850 Zentnern lag. Zudem gibt es Hinweise auf den Bau eines Gradierwerkes, denn in den Jahren 1880 und 1881 wurden in einer Kampagne erste Versuche unternommen, das Abwasser zu reinigen, um die Schrote als Vorfluter zu entlasten.
Als Höhepunkt der Firmengeschichte nennt Lüder Bruse die Teilnahme an der 5. Weltausstellung 1873 in Wien, die von 7,3 Millionen Menschen besucht worden war. Die Stadtfelder Zuckerfabrik wurde damals für ihre Exponate mit einem „Ehrendiplom“ ausgezeichnet. Im „Amtlichen Bericht über die Wiener Weltausstellung im Jahre 1873“ taucht die Zu-ckerfabrik in der Gruppe IV. „Nahrungs- und Genussmittel etc.“ ebenfalls auf. „Gemahlener Melis, Puderzucker, Crushed, Pilézucker und Farine waren in allen Varietäten vorhanden. Unter den Ausstellern derselben zeichneten sich aus: C. Bennewitz, Coste & Co. in Biere bei Magdeburg, Burchard & Co. in Calbe, Dorendorf & Co. in Meitzendorf, Jakob Hennige in Neustadt-Magdeburg, W. von Kotze in Kl. Oschersleben, Rudolph & Co. in Magdeburg (…)“, geht aus dem amtlichen Bericht hervor. Dennoch habe das Unternehmen in den darauffolgenden Jahren seine Konkurrenzfähigkeit eingebüßt. Ab 1889 lief ein Konkursverfahren gegen die Firma, die nunmehr unter dem Namen „Rudolph & Co. Nachfolger“ auftrat. Die Zeitschrift des Vereins für die Zuckerindustrie vermerkte, dass das Unternehmen per 31. März 1890 aus dem Verein ausgeschieden war – wegen des „Überganges an andere Besitzer“.
Ein weiteres Unternehmen, mit dem sich der 81-Jährige Diplom-Ingenieur intensiv beschäftigt hat, ist die „Sirup- und Produktenhandlung Gebr. Boye“. Bei seinen Recherchen ist er von Christa Fiermann, der Enkelin des Firmengründers Rudolf Boye, unterstützt worden. Noch heute sind im hohen Giebel des Hauses Gerhart-Hauptmann-Straße 30 die Initialen R und B zu erkennen, die auf ebendiesen Rudolf Boye zurückzuführen sind. Er hatte zunächst mit seinen Brüdern Wilhelm und Walther in der Altstadt (Leiterstraße 7) die „Sirup- und Produktenhandlung Gebr. Boye“ gegründet und den Betrieb 1905 nach Stadtfeld in die damalige Kaiser-Friedrich-Straße 30 verlegt. In dem doppelt unterkellerten Gebäude produzierte er als Sirup-, Kunsthonig- und Kulörfabrikant. Zuckerkulör wird auf der Basis von u.a. Karamell als Färbemittel für Flüssignahrung eingesetzt.
In den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten waren Angehörige der Unternehmerfamilie Boye in fast allen industriegeschichtlich bedeutsamen Magdeburger Stadtteilen präsent. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Betrieb zunächst privat geführt, später mit staatlicher Beteiligung und schließlich wurde er als „VEB Zuckerverarbeitung“ verstaatlicht. Die vierköpfige Boye-Geschäftsleitung hatte im Jahr 1960 Magdeburg verlassen. Nach der Wende, per 1. Juli 1990, endete die Bestandszeit des Unternehmens.
Auch eine kleine Anekdote weiß Lüder Bruse über das Unternehmen zu berichten: Die Sirup-, Kunsthonig- und Kulörfabrik Rudolf Boye KG war – wie jedes Jahr damals – in der Zeit vom 1. bis zum 8. September 1957 mit ihrem Infostand Nr. 518 im Leipziger Messehof vertreten. Im Rahmen exportorientierter Tätigkeit hatte das beauftragte örtliche Werbeinstitut ein englischsprachiges Etikett für die Zuckersirupgläser entworfen und dieses mit dem kleinen Porträt einer unbekannten Blondine ausgeschmückt. Bei den Lieferungen des Zuckerrübensirups nach Tunesien machte sich eine positive Nebenwirkung bemerkbar: Die tunesischen Partner gaben zu, dass dieses Blondinen-Porträt auf dem Etikett deutlich verkaufsfördernd sei und zudem auffallend viel Verwendung als Wandschmuck fände. Tina Heinz