Die Liebe sitzt beim Nachbarn
Christoph blickte vom Computerbildschirm zum Fenster und starrte in die Dunkelheit. Der späte Sonntagnachmittag war genauso trist, wie man ihn sich gewöhnlich im November vorstellen würde. Unter dem blassen Licht der Straßenlaterne nieselte Regen auf die Fahrbahn. Ob die trübe Aussicht von draußen durch die Scheibe ins Arbeitszimmer drang oder Christoph selbst alles mit öder Stimmung ansah, war nicht auszumachen. Jedenfalls floss dem Schriftsteller der Text, an dem er arbeiten wollte, nicht aus den Fingern. Schließlich stand er auf und ging in die Küche. Vielleicht, so dachte sich Christoph, könnte ein kleiner Imbiss die Melancholie vertreiben. Während er auf den Inhalt seines Kühlschrankes starrte, tönte die Wohnungsklingel. Um diese Zeit, zum anbrechenden Abend, erwartete der Mitfünfziger keine Besucher. Er schloss also die Eisschranktür wieder und begab sich in den Flur.
An solchen einsamen Wochenenden wie diesem war die Haustür seit zwei Tagen verschlossen. Christoph hatte sich wie so oft in seiner Wohnhöhle eingeigelt. Also musste er den Schlüssel zunächst zweimal drehen, bis er die Tür öffnen konnte. Davor stand Maximilian. „Also ich muss dir etwas sagen. Das mag jetzt komisch klingen und du entscheidest dann, ob du mitkommst oder nicht.“ Maximilian war in den Flur gestürmt, hatte einfach drauflos geredet und Christoph damit völlig verwirrt. Der stand noch immer an der geöffneten Wohnungstür und blickte seinem Nachbarn nach, der ohne abzuwarten seine Schritte in Richtung Küche gesetzt hatte. Schließlich schloss er die Tür und folgte Maximilan verdutzt. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Wo fange ich an? Also bei Katharina und mir sitzt Nina. Die ist total unglücklich, weil ihr Freund sie verlassen hat. Wir wollten ihr ein wenig die Traurigkeit vertreiben …“ Christoph wusste nicht, was der Bericht bedeuten sollte, bekam aber keine Gelegenheit, Fragen zu stellen. „… Katharina hat überlegt, welche Männer für sie infrage kommen könnten. Und da kam plötzlich dein Name ins Spiel. Nina fragte erst, was sie mit dir solle, weil du doch in einer Beziehung wärest. Meine Frau hat ihr jedoch erklärt, dass du gerade solo bist. Ich habe angeboten, dass ich auf dem Weg zum Keller – wir haben schon eine Flasche Wein geleert, deshalb musste ich eine neue holen – bei dir klingeln könnte … Also, wenn du jetzt nicht mitkommen willst, ist das völlig okay …“
Bei Christoph ordnete sich nur langsam das Gedankenwirrwarr. Nina. Auf einmal war alles wieder präsent. Irgendwann, vor zehn Jahren oder auch länger, hatte er eine erste Begegnung mit dieser Frau. Das Treffen hatte sich wegen seiner Außergewöhnlichkeit tief in seine Erinnerung eingebrannt. Unverhofft hatte Nina einst vor ihm gestanden. Über die Jahre traf er sie ab und an. In dieser Stadt konnte man sich schwer nicht begegnen. Jedes Sehen hatte einen eigentümlichen Geschmack hinterlassen. Über ein Hallo oder die Frage „wie geht’s“, waren die Dialoge mit Nina kaum hinausgegangen. Und doch existierte für Christoph das Gefühl einer mystischen Anziehung. Jetzt saß dieser unheimliche Magnetismus ohne Vorahnung bei seinem Nachbarn in der Wohnung und er sollte sich entscheiden, ob dieser Moment eine Chance sein könnte oder wieder nur ein distanziertes Umeinanderherumschleichen. Hatte Christoph etwas zu verlieren?
Klare Gedanken konnte der Schriftsteller nicht fassen. Möglicherweise hatte Nina mit Maximilians Klingeln längst einen Köder ausgeworfen und Chris-toph glaubte noch, sich vom Haken ihrer einnehmenden Ausstrahlung befreien zu können. Während er die Treppe in die dritte Etage hinaufstieg, folgte er seinem Nachbarn wie eine Marionette. Als hinge er längst an Ninas unsichtbaren Fäden. Nina, die Fee des Zufalls, hockte mit Katharina am Küchentisch und trällerte ein fröhliches „Das ist aber schön, dass du hoch gekommen bist“ heraus. Wortlos hatte Christoph Platz genommen. Er versuchte, zu lächeln. Über dem Tisch schwebte irgendwie eine Verschwörungsstimmung gegen den Ex-Freund. Die Frauen hatten in den zurückliegenden Stunden Pläne geschmiedet, wie man dem Abtrünnigen schaden konnte. Mit einem Gemisch aus Schmerz, Verzweiflung, Rache und Galgenhumor war die Atmosphäre im Raum angefüllt. Christoph fühlte sich unwohl. Aber Nina lachte, scherzte und schoss in einer knappen, unmissverständlichen Wortwahl provozierende Bemerkungen auf den Ankömmling ab. Sie meinte, dass ihr der Überfall mit Maximilian peinlich sei. Christoph glaubte das nicht.
Er hatte da eine andere Erfahrung gemacht. Nina hatte sich damals, vor über zehn Jahren, während eines Rockkonzerts zu ihm an die Seite gesellt. Mit ihrer attraktiven Erscheinung war sie ihm natürlich zuvor schon einige Male aufgefallen. Er wusste damals, dass sie genauso gebunden war wie er selbst. Jede Annährung wäre deshalb ein Tabu gewesen. Doch plötzlich redete sie auf ihn ein, forderte ihn zum Tanz auf und wenig später wünschte sie sich von ihm einen Drink an der Bar. Und dann der Überfall: Sie hatte dicht neben ihm auf einem hohen Hocker gesessen und schlang wie aus heiterem Himmel ihre Beine um seine Taille. Dem körperlichen Angriff folgte die Wortsalve: „Mit dir wollte ich schon immer mal schlafen!“ Nur dunkel konnte sich Christoph an die eigene Reaktion erinnern. Er musste wohl die Frage, wie sie darauf gekommen war, gestammelt haben. Worauf Nina nur die kurze Antwort nachgeschoben hatte, dass ihr die Idee im Traum begegnet sei. Passiert ist damals nichts. Aber seither wurde Christoph weder die ungewöhnliche Szene noch diese Sätze los.
Nun war Nina wieder da. War einfach aus den Wolken gefallen oder befand sich zumindest im selben Haus, in dem Christoph sie an diesem trüben Sonntagabend niemals vermutet hätte. Was hätte er je vermuten können? Nichts. Alles, was er wusste, war, dass Nina existierte, dass sie einmal einen Pfeil auf ihn abgeschossen hatte und dass seitdem immer etwas zwischen ihm und ihr gewesen sein musste. Christoph hatte nie einen Namen für diese mysteriöse Verlockung. Manchmal kam es ihm vor, als schwebte in diesem Nebel zwischen ihnen eine zerstörerische Kraft, so als könnten sie davon zerrissen werden. Vielleicht war es alles auch wie ein stilles Lied, dessen Melodie sie nicht zu hören in der Lage waren und doch blieb eine Ahnung, als spielte irgendwo eine verbindende Musik.
Die Plauderei am nachbarlichen Küchentisch wurde mit der Zeit leichter und fröhlicher. Der Alkohol hatte die Zungen gelöst und die betrübliche Stimmung ertrunken. Und Nina lächelte jetzt öfter. Mehrfach bestätigte sie ihre Freude darüber, dass Christoph ihrem Ruf gefolgt war. Es mögen drei Stunden verstrichen sein, als Nina fragte, ob sie bei ihm auf der Couch übernachten könne. Wieder so ein Überfall. Christoph schwankte. Sollte er für sie etwa als ein tröstender Lückenbüßer herhalten. Noch bevor er das Für und Wider endgültig abwiegen konnte, war ihm Nina ins Nachsinnen gefallen und meinte, sie würde es verstehen, wenn er ablehnte und dass Christoph sich dadurch nicht wie benutzt fühlen sollte. Christoph wusste überhaupt nicht mehr, was er fühlen sollte. Irgendwohin war er mitgerissen worden, in eine Ungewissheit über alles Kommende und gleichsam in einen Gefühlssumpf gefallen. Verirren, versinken, verlieren – solche Worte sammelten sich in seinem Kopf.
Katharina und Maximilian hatten von Christoph die seltene Verstrickung über die beiderseitige Vergangenheit vernommen und bestärkten beide zu dieser gemeinsamen Nacht. Wenig später führte Christoph Nina die Treppe hinunter in seine Behausung. Er ließ Wasser in die Wanne ein. Bereitete einen Tee und entzündete Kerzen im Bad. Nina genoss scheinbar die Situation. Sie suchte seine Nähe. Er gab sie ihr. Und aus der Nacht wurde eine zweite und eine dritte. Die Kalenderblätter fielen zum Ende des Jahres. Weihnachten nahte. Nina war einfach nicht mehr gegangen und Christoph klebte an ihrem Dasein mit einem neuen Gefühl, dass sich aus unsichtbaren Banden der Vergangenheit zu einem Netz aus Zuneigung geknüpft hatte.
Zwischen beiden war eine Kraft ausgebrochen. Und ja, sie hatte eine zerstörerische Wirkung. Sie riss ihnen den Boden unter den Füßen weg und verwehte alles, was war, ins Gestern. Diese Energie ließ nichts bestehen. Christoph fühlte sich in Ninas Welt eingeladen. Sein Trübsinn, seine Einsamkeit und emotionale Orientierungslosigkeit erfuhren die Auslöschung. Jungfräulich war der Boden, auf dem nun Liebe wuchs, und zwar eine, die beide ersehnt hatten. Ihr einstiger Traum mit ihm war in Erfüllung gegangen. Die süße Glut über die lange zurückliegende überfallartige Nina-Episode war bei ihm nun richtig entflammt. Beide wussten nicht, dass diese Kraft zwischen ihnen etwas mit Liebe zu tun hatte, dass der Samen dafür schon in die früheren Begegnungen gelegt war. Der Keim mag vorher nicht reif gewesen sein, aber sein Drängen nach Leben war spürbar. Unter ihrer Haut wucherte stets Unruhe. In den kurzen Treffen der letzten Jahre war die Saat aufgegangen. All die Male, in jedem Augenblick ihrer vergangenen Gegenwärtigkeit, waren sich ihre Gedanken entgegengeflogen, unwissend, aber sie flogen. Als hätten sie sich für diesen einen Moment aufgehoben, für dieses Zusammentreffen bei Christophs Nachbarn. Dass Liebe so nah sein konnte, selbst an einem nasskalten Novemberabend. Seit diesem Tag treffen sich Christoph und Nina mit Katharina und Maximilian häufiger, mal unten, mal oben. Und jeder von ihnen bleibt darüber erstaunt, dass die Liebe zu Gast beim Nachbarn sein kann. Axel Römer