Der System-Irrtum
Es irrt der Mensch, solang’ er strebt.“ Das wusste schon Johann Wolfgang von Goethe. Das Streben, den Irrtum zu überwinden, bleibt wohl daher eine Quelle, sich stets neu auf die Suche zu begeben, wo denn nun des Pudels Kern zu finden sei oder eben was die Welt im Innersten zusammenhält. Manchen Irrtum glaubten wir längst überwunden zu haben. Doch halten sich Irrglauben und kuriose oder gar widersinnige Ansichten wie das Amen in der Kirche.
Als in Folge der friedlichen Revolution von 1989 die DDR als staatliches und politisches System ausgemerzt war, sollten Freiheit und Demokratie das Licht einer rosigen Zukunft entfachen. Zeiten diktatorischer Anmaßung, staatsfeindliche Einordnung Andersdenkender und das Einzäunen von Menschen und Ideen sollten ein für allemal der Vergangenheit angehören. Doch nicht jeder konnte, durfte oder wollte an den vom damaligen Kanzler Helmut Kohl versprochenen, „blühenden Landschaften“ mitgärtnern. Was der Sozialstaat im Gewand der Marktwirtschaft an Ausgleich und Sicherheit schenken sollte, war und ist nicht jedermanns Gerechtigkeit. Wir konstatieren eine sich weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich.
Der Kalte Krieg zwischen den politischen Blöcken von Nato- und Warschauer Vertragsstaaten würde zu einem heißen Frieden der Völker werden. So glaubte man es. Die kapitalistischen Demokratien hatten die real existierenden sozialistischen Modelle mit ihrer wirtschaftlichen Effizienz und Stärke in den Abgrund gestoßen. Europa rückte zusammen, gab sich als großes Zukunftsgebilde, dass seinen Völkern Wohlstand und Ausgleich garantieren sollte. Und was nun? Die Briten nehmen reißaus, koste es, was es wolle. Die dominanten Wirtschaftsnationen Deutschland und Frankreich verordnen den hochverschuldeten Griechen, Italienern und Portugiesen soziale Einschnitte und Sanierungsprogramme, um gleichfalls neue Kredite mit Zinsen zu verkaufen. Russland wird spätes- tens seit der Krim-Annexion als gieriger Gebietsagressor gesehen und die Nato-Armeen verrückten ihre Einflusssphäre weiter gen Osten.
Um die 1990er Jahre öffnete sich China unter dem Staatsführer Deng Xiaoping nach landwirtschaftlichen Reformen mehr und mehr einer privatwirtschaftlichen Produktion. 1997 und 1998 wurden bei zahlreichen Privatisierungen fast sämtliche Staatsbetriebe liquidiert und ihre Vermögenswerte an private Investoren veräußert. Bis heute hat das bevölkerungsreichste Land der Erde 800 Millionen Menschen aus der bittersten Armut geführt und macht mittlerweile der USA den Platz als größte Volkswirtschaft streitig. Der chinesische Weg ist schwer nach westlichen Definitionen einzuordnen. Wie soll man ihn nennen: Staatskapitalismus, marktwirtschaftliche Diktatur?
Nach modernem Umwelt- und Naturschutzverständnis ist jede kapital-orientierte Volkswirtschaft ein Übel bzw. ein Menschheitsirrtum. Raubbau an der Natur, Klimafolgeschäden, Meeresverschmutzung und Landschaftsverödung sind Ergebnisse des kapitalistischen Systems. Die Umweltsünden sozialistischer Plan-Industrien scheinen darunter vergessen. Eine neue Bewegung mit Namen „Extinction Rebellion“, was so viel wie Aufstand gegen das Aussterben der Gattung bedeutet, will den menschlichen Wohlstands-Irrtum überwinden. Die Protagonisten rufen zum „massenhaften zivilen Ungehorsam“ auf. Da gibt sich selbst die Grünen-Mitbegründerin Jutta Ditfurth skeptisch: „Ich halte ,Extinction Rebellion’ nicht für eine Umweltbewegung im klassischen Sinne, die sich kritisch, aufklärerisch oder gar links für die Klimakastrophe und die Zusammenhänge von Naturvernichtung und Kapitalismus interessiert. ,Extinction Rebellion’ ist nicht intellektuell, sondern ahistorisch, spricht nicht den Verstand an, sondern setzt auf mys-tisch-esoterisches Drama, pathetische Kostümierung und hat ein zentral vorgefertigtes Bühnenbild. Die Organisation versucht alles, um den intellektuellen Hohlraum mit Versatzstücken religiös-gewaltfreier Ideologie zu verdecken.“ So sagt sie es der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Interview. Wer irrt nun? Aus der Perspektive der Ideengeber für die Rettung der Welt, sind es stets die anderen, die nicht mitmachen.
Die AfD zeigt seit ihrem Aufstieg in die bösen politischen Eliten auf die verlogene Journaille und will mit ihrer Programmatik dem aktuellen Mainstream ihren Stempel aufdrücken. Unter dem Druck der vielen Rufer aus unterschiedlichen Richtungen für die angeblich richtige Richtung schwankt die Gesellschaft, Überzeugungen bröckeln und wahnwitzige Vorstellungen finden Verbreitung. Solche, die sich klar positionieren, wähnen sich stets auf der richtigen Seite. Im Irrtum befinden sich nur die anderen. Es dürfte wohl ein Irrtum sein, dass fortwährende Standpunkt-Pauken auf Online-Kanälen und in klassischen Medien wirklich etwas verändern. Vielmehr werden Gruppenidentifikationen verdichtet.
Eine Zentralregierung für Europa kann nicht jedem regionalen Interesse oder nationalen Besonderheit Rechnung tragen. Eine Weltregierung, wie sie von manchen erträumt wird, würde unter gleichen Regeln für alle nur neue Gefälle und Ungerechtigkeiten erzeugen. Aber die Vorstellungen dafür sind da. Die Superreichen, die Milliardäre dieser Welt sind natürlich ebenso ein Übel ihrer Finanzmacht. Wer gegen einen Mark Zuckerberg wettert, kann Facebook einfach abschalten. Wer die Autokonzerne wegen ihrer Größe beschimpft, muss kein Fahrzeug kaufen. Wem die Gehälter für Fußballer zu hoch sind, schaut sich keine Spiele an. Im Prinzip könnte alles, was unter Systemkritik steht, vermieden werden, außer natürlich solche Finanzspekulanten, die an Zerstörung und Aufbau verdienen können und wollen. Man müsste nur etwas anderes machen. Das so genannte andere würde aber wieder andere bedeutsam werden lassen. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass ein System einfach durch ein anderes ersetzt werden kann und dann wäre vielleicht alles oder einfach nur mehr gut als bisher. Der alte Goethe hatte mit seinem Satz, „Es irrt der Mensch, solang’ er strebt“, eben doch recht. Also streben wir weiter und irren uns redlich bis das Irren endet und alles in der letzten Gewissheit – dem eigenen Tod – aufgeht. Es ist übrigens kein Irrtum, dass sich etwas ändert, wenn viele genau das vorleben, anstatt anderen das vorzuschreiben. Axel Römer