Der Mensch, unsere Hoffnung
Die Freunde hatten abgeraten. „Er wird dich nicht verstehen. Du verstehst ihn nicht. Am Ende redest du dich um Kopf und Kragen.“ „Mit Ängstlichkeit zeugt man keine Kinder“, schmunzelt er, nimmt seine Frau bei der Hand und zieht sie, die wie die Freunde eher zögerlich reagierte, zum Feuer, an dem Marcus wartet. „Ich sehe keinerlei Schreibutensilien“, sagt er, statt einer Begrüßung. „Ich habe einen guten römischen Kopf mit einem guten römischen Gedächtnis“, antwortet der Journalist. „Für welche Zeitung schreibst du eigentlich?“ Marcus legt zwei Holzstücke nach, blickt dann auf sein Gegenüber und sagt, eher beiläufig: „Für das ‚forum romanum’. Die römische Morgenzeitung.“ „Was geht deine Leser die Meinung der Leute hier an, von Leuten, die so weit weg leben von deinen Lesern?“
Marcus schüttelt den Kopf. „Du vergisst: Wir sind jetzt ein Land.“ „Nun“, antwortet sein Gegenüber: „Wir wurden nicht gefragt. Wir wurden okkupiert. Es ist euer Lied, das wir jetzt singen müssen. Das hat mit uns wenig zu tun. Das Einzige, was wir merken, ist, dass die Ausgaben sich vervielfachen, während die Einnahmen unbestimmt und niedrig bleiben. Euer Wohlstand wächst auf unserer Armut.“ „Kann ich das so schreiben?“ Marcus beugt sich gespannt nach vorn. „Was?“ „Euer Wohlstand wächst auf unserer Armut?“ Er schaut auf Marcus, seine Mundwinkel zucken: „Ist das etwas Neues für Dich?“, fragt er ungläubig. „Davon lebt ihr doch, solange ihr euch auf den Weg macht, immer noch ein Volk zum römischen Frieden zu bekehren.“ „Damit wächst aber auch unsere Verantwortung“, entgegnet Marcus. „Mir kommen die Tränen.“ Maria Magdalena kniept ihn in den Oberarm. „Du wirst leichtsinnig“, sagt sie zu ihm. „Du weißt nicht, ob das, was du sagst, nicht auch bei Herodes landet.“
Über den von den rotbraunen Bergen, die im Dämmerlicht noch zu ahnen sind, umrahmten See liegt der Lichtschein eines heute, wie Maria Magdalena staunt, ganz besonderen Abendrotes. Etliche Fischer besteigen ihre Boote und fahren hinaus auf den See. „Welche Fische fängt man hier?“ Marcus sieht den Booten nach. „Muscht“, antwortet Maria Magdalena. „Muscht? Was ist das?“ Maria Magdalena zieht das Tuch von ihrem Korb und lässt Marcus hineinblicken: „Muscht nennen wir die Süßwassersardine. Die gibt es, falls ihr es noch hinkriegt, endlich ein Feuer zu machen, nachher gegrillt.“
Marcus und er sammeln Holz. Das Feuer kommt zunächst nur zögerlich in Gang. Maria steckt die Sardinen auf kleine Spieße, die sie in der Zwischenzeit gefertigt hatte, und hält sie vorsichtig über die Flammen. Bald duftet es nach gegrilltem Fisch, dass auch etliche Leute, die mehr oder weniger durch den Duft angelockt werden, darum bitten, sich am Mahl beteiligen zu dürfen. Auch sie haben Muscht mitgebracht, einer drei langköpfige Barben, die er am heutigen Tage geangelt hatte.
„Probier mal“, forderte ein anderer Marcus auf und hielt ihm eine Fischsauce unter die Nase, die ebenfalls köstlich duftete. Er reichte ihm Brot dazu. Marcus schmeckte der Gruß aus der Nachbarschaft. Er war es als Römer nicht gewohnt, hier so freundlich behandelt zu werden. „Das muss dich nicht wundern. Wenn du ihm etwas bedeutest, bist du auch uns willkommen“, erklärt ihm Jochanaan, der Cousin Maria Magdalenas. „Er ist seit seiner Geburt bereits ein Mensch unserer Hoffnung.“
„Was habt ihr außer dem Muscht noch an der Sauce?“, will Marcus wissen. „Salz aus dem Toten Meer“, verrät ihm Jochanaan. „Köstlich.“ Marcus merkt, dass das Lob aus römischem Mund die Umstehenden erreicht und stolz macht. „Was meint ihr mit dem Satz, dass er seit seiner Geburt ein Mensch der Hoffnung sei? Welcher Hoffnung? Und für wen?“
Maria hat die letzten Sardinen verteilt. Sie setzt sich zu Marcus und erzählt: „Die Menschen hier um den See leben vom Fischfang. Schimon und seine Freunde sind Fischer. Der Ort, aus dem sie stammen, hieße in eurer Sprache Fischhausen, Bethsaida. Man lebt hier vom Fischfang, der Verarbeitung der Fische und ihrem Verkauf.“ „Das heißt, sie müssen auch Tag um Tag hinaus auf den See, um ihre Familien zu ernähren?“ Maria nickt. „Ja. Hier lernt man, dass Gottvertrauen eine Währung ist, die man besser hütet, als dass man sie ausgibt.“
Marcus beobachtet, wie er sich mit jedermann, der zum Ufer kommt, unterhält. „Hic verbum caro factum est“, wirft Jochanaan in Marcus Sprache ein. „Welches Wort?“, fragt der Journalist zurück. „Welches Wort soll Fleisch geworden sein? Was soll das überhaupt heißen?“ Jochanaan legt ihm begütigend die Hand auf die Schulter: „Wir reden von ihm so. Er, bereits an seiner besonderen Geburt als ein Mensch der Hoffnung erkennbar, so meinen wir, ist Teil Gottes. Das ist Fleisch, also Mensch geworden. Das ist doch eine verrückte Nachricht!“ Marcus staunt: „Das glaubt ihr wirklich? Unsere Kaiser werden Gott, wenn sie das Leben verlassen. Aber ihr habt ohnehin einen so merkwürdigen Gott, dass ihr für uns nichts anderes als Atheisten seid. Einen Gott, den man nicht sieht, gibt es nicht.“ Jochanaan schüttelt den Kopf: „Wozu muss man ihn auch noch sehen, wenn man erfährt, wie wirkmächtig er ist? Als wir noch Nomaden waren, war es wichtig, dass er mit uns mitzieht. Da konnten wir keine Standbilder gebrauchen.“
Die Nacht ist längst hereingebrochen. Sie legen sich zurecht und schlafen ein, vom Rauschen des Wassers in der Brandung legt sich eine Ruhe auf ihre Seelen, die sie den Schlaf im Nu finden lässt. Das erste Schnarchen kommt von Schimon, der sich doch nicht, wie er es zunächst angekündigt hatte, auf den Weg nach Hause gemacht hatte.
Der laute Ruf der Kraniche weckt die Schläfer in der Frühe. Freilich sind Schimon und sein Bruder bereits auf dem See, trotz des ziemlich hohen Wellengangs, von welchem man kaum glauben kann, dass die Ursache tatsächlich der laue Wind sein soll, der sich am frühen Morgen schon, als wollte er dem Hunger Paroli bieten, aufgemacht hatte und der die Wellen schneller und höher vor sich her trieb, als böte er ein Kinderspiel. Die am Strand Verbliebenen erweckten das Feuer zu neuem Leben. Marcus bekam die Fischsauce vom Vortag gereicht, dass er am frühen Morgen wenigstens etwas im Magen verspüre.
„Ich will dich erheben, mein Gott, du König, und deine Namen leben immer und ewiglich. Amen. Seid gesegnet, meine Lieben. Das scheint ein guter Morgen zu werden. Schimon und sein Bruder fangen uns unser Frühstück. Wünschen wir ihnen in unserem Namen Glück.“ „Vielleicht können wir in der verbleibenden Zeit etwas über deine Beziehungen zum König, pardon, zum Tetrarchen erfahren?“ „Du lässt nicht locker“, schmunzelt er. „Ich erzähle dir eine Geschichte. Pontius Pilatus, euer Statthalter in unserem Land, Tiberius, der Kaiser über Rom und Herodes Antipas, unser Tetrarch, der sich einen König dünkt: Sie starben und standen vor meines Vaters Thron. Nun, sprach mein Vater, Pontius Pilatus, woran glaubst du? Der überlegte einen Moment und sagte dann: Daran, dass Rom für die Menschen wichtig ist, weil es Frieden schafft. Und dass es aus diesem Grund gut und gerecht ist, dass ich über Judäa und Samaria im Namen Roms zu gebieten habe. Gut, sagte mein Vater. Pontius Pilatus, setze dich zu meiner Linken. Tiberius, gottgleicher Kaiser von Rom, woran glaubst du? Nun, sagte der, dass es einem römischen Kaiser ansteht, bescheiden und pflichteifrig zu leben und zu arbeiten. Vor allem aber, um den krassen Unterschied zwischen Arm und Reich insofern auszubügeln, dass die Menschen von ihrer Hände Arbeit leben können. Gut, sagte mein Vater, Tiberius, setze dich zu meiner Rechten. Herodes Antipas, wie wir wissen, ist ein Mann großer Worte, kleiner Taten, der es mit der Wahrheit nicht all zu genau nimmt. Er ist einer, der eher auf seinem Volk herumtrampelt, als dass er ein Wunschpotentat sein könnte – Herodes Antipas macht auf die Frage meines Vaters sein Maul weit auf, schielt auf dessen Thron und sagt: Ich glaube, mein lieber, guter Gott, ich muss dir sagen: Du sitzt auf dem Thron, der mir rechtmäßig zusteht.“
Das fröhliche Gelächter zieht sich weit dahin am Ufer. Schimon und sein Bruder landen inzwischen ihren Fang an, der ein ebenso fröhliches Morgenmahl ermöglicht. Maria Magdalena sucht währenddessen nach einer passenden Gelegenheit, Marcus allein sprechen zu können. „Du schreibst diese Geschichte nicht auf, Marcus“, bittet sie ihn. Er hatte es ohnehin nicht vor. „Das ist nicht nur Herodes, der ihn, das will ich nicht verschweigen, schon seit Längerem gern kreuzigen lassen würde, mit dem Witz würde er auch bei meinen Leuten ziemlich quer liegen. Hab keine Angst. Aber gut beobachtet ist er. Maria, mir wurde zugetragen, dass es eine seltsame Geschichte um seine Geburt gibt. Kennst du sie?“
Marias Gesicht entspannt sich. „Es gibt Menschen, für die er viel bedeutet. Die erzählen sich eine Geburtsgeschichte, die seiner Bedeutung entspricht. Du kennst ja seine Eltern, Maria und Joseph, den Zimmermann, der in Nazareth seine Werkstatt hat. Es gab damals, noch auf Anordnung des Augustus, den ihr den Friedenskaiser nennt, eine Volkszählung, der Steuern wegen. Dass keiner zweimal gezählt wurde, musste der Mann in seinen Geburtsort reisen. Das war bei Joseph Bethlehem. Auf der Reise kam Maria nieder. Joseph nun war ein Nachfahre des jüdischen Königs David. Auf diese Weise ist Jehoschua also ein Nachfahre des großen jüdischen Königs.“ „Es gibt aber auch eine Fassung der Geschichte, die das bestreitet und die sagt, er stamme von Gott direkt ab.“ Maria blickt genervt zum Himmel. „Ja, die habe ich auch schon gehört. Wir wissen bei unserer Geschichte, die wir erzählen, auch nicht wirklich, ob er Josephs Kind ist oder ob Joseph nicht eher die schutzsuchende andershäusig stammende Mutter aufnahm, sich damit den Wunsch von einer jungen, schönen Gattin erfüllend, an die er ohne Verwirrnis nicht hätte ein Wort zu richten gewagt. Aber er hat sich zu seiner Verantwortung bekannt und ich habe nie gesehen, dass die beiden es an sich und an ihrem Kinde hätten an Liebe mangeln lassen.“ Marias Augen bekamen einen verträumten Ausdruck. „Dass wir uns fanden und heirateten“, sagte sie, „ betrachte ich als ein großes Glück, das mir widerfuhr. Dass er mehr draußen bei den Leuten ist als bei mir, das hat mit seiner Aufgabe zu tun. Da kann ich langes Getrenntsein nur ausschließen, wenn ich mit ihm ziehe, verstehst du? Hätte ich ein geruhsames Leben gewollt, hätte ich einen anderen Mann heiraten müssen.“ Marcus lächelt. „Wie wahr“, meint er. „Hat die Geburt, wie erzählt wird, in einem Stall stattgefunden?“ „Möglich. Er sagt immer: Ich war zwar dabei, habe aber weder etwas gesehen noch gehört. Aber warum soll er bei der Fülle der Besucher nicht im Stall zur Welt gekommen sein? In eine Futterkrippe gelegt und die Eltern schliefen tief und fest. Ich glaube, sie haben sogar die heiligen drei Könige verpasst. Wenn man sie mal der Reihe nach erzählen würde, wäre das eine schöne Geschichte, glaube ich,“ meinte Maria Magdalena. Jehoschua fährt ungeduldig dazwischen: „Wir müssen schauen, was morgen ist“, sagt er, „nicht die Geschichten aus dem Gestern erzählen. Uns fliegt die Welt um die Ohren und ihr macht euch Sorgen, ob Joseph die heiligen drei Könige protokollgerecht empfangen hat oder nicht.“
Es herrscht einen Moment Schweigen. Dann setzt Maria an: „Wenn sie gut erzählt wird, berührt sie die Menschen. Es ist eine Geschichte, die Eltern ihren Kindern, diese den ihren, deren Kinder wiederum sie ihren Kindern erzählen werden. Sie wird die Menschen alle über Zeiten und Ländergrenzen hinweg verbinden. Dafür lohnt es sich doch, diese Geschichte zu erzählen.“ Jehoschua will erst aufbrausen, besinnt sich dann aber doch: „Ja, da kannst du Recht haben. Aber das gilt nur, wenn wir gleichzeitig in die reale Welt schauen. Die Geschichte ist etwas wert, wenn wir gleichzeitig aufmerksam wahrnehmen, wie es unserem Nachbarn hier in Bethsaida geht, oder in Nazareth? Lob sei dem Allmächtigen, wenn wir von heute an losgehen, um die Welt ein wenig gerechter zu machen. Wenn wir das tun, will ich gern stillsitzen, bis ihr das Bild meiner Kindheit aufgezeichnet habt. Was ist da draußen los?“ Der Wind ist rauer geworden. Die Wellen schaukeln das Boot von Schimon und seinem Bruder Andreas hin und her. Mit Erstaunen sieht Marcus, wie Jehoschua das Gewand rafft und im Eilschritt zum Boot weit vor dem Ufer läuft, wie er Schimon etwas zuruft, beschwörende Gesten macht. „Das ist ja verrückt“, denkt Marcus.
Der Artikel erschien im forum romanum nicht. Der Chefredakteur empfand ihn zu emphatisch für einen Artikel über diese merkwürdigen Barbaren am anderen Ende der Mittelmeerküste. Marcus setzte sich dann hin und schrieb ein Buch über seinen ihm inzwischen zum Freund gewordenen jüdischen Prediger. Die Weihnachtsgeschichte nahm er nicht mit auf in sein Buch. „Ich wollte kein Erzählwerk mit Geschichten schaffen, die meinen römischen Lesern nicht auf den rationalen Leib geschnitten sind. Ich tue seiner Botschaft damit keinen Gefallen. Und gerade in diesen Zeiten, in denen sich vieles bewegt, manch einer nach einer Richtschnur sucht, manch einer denkt, er käme mit einfachen Parolen durch eine Welt, da braucht es eine Konzentration auf das Wesentliche. Das will ich ihnen bieten.“
„Wir haben das, als es endlich vorlag, dann ganz einfach Evangelium genannt. Es war das erste seiner Art. Und ich habe das noch erlebt, wie es herauskam. Ich denke, er ist stolz auf diese Art der Erzählung, wie sie Marcus verschriftlicht hat. Ehrlich gesagt, ich auch. Ich habe Marcus viel davon erzählt.“ Maria ist älter geworden seit jenem ersten Treffen am See Genezareth. Es ist Herbst. Die Zugvögel, die sich hier niedergelassen haben, zählen nach Hunderttausenden. Ein Gezwitscher, ein Chaos mit eigener Definition von Disziplin. Die Lachfalten in Marias Gesicht füllen sich mit Leben. „Wie?“, sagt sie, „es gab zu unserer Zeit gar keine Zeitungen im heutigen Sinne? Das ist doch Quatsch. Wie wäre ich sonst zu einem Gespräch mit einem ausgefuchsten Journalisten gekommen? Na, überlegen Sie mal...“ Ludwig Schumann