Briefe an Oma
Manchmal steht sie vor mir. In ihrem schwarzen Rock mit Blumen darauf, ein weißes Shirt dazu, mitten im Garten zwischen den Erdbeerpflanzen. Die Sonne scheint auf ihr naturgegerbtes, von kleinen Fältchen überzogenes Gesicht. Hinter der Brille strahlen ihre jung wirkenden Augen. Und die schwarz-grauen Haare machen den Eindruck, als sei das Alter fast spurlos an ihnen vorübergegangen. Manchmal sehe ich sie so vor mir stehen … wenn ich die Augen für einen Moment schließe. Oder sie sitzt auf einem alten Stuhl, der neben dem dunklen Wohnzimmertisch steht, schaut eine Naturdokumentation oder die Nachrichten und schüttelt den Kopf, weil sie das, was in der Welt passiert, nicht mehr verstehen mag.
So habe ich sie in Erinnerung … meine Oma. Immer dieser Rock. Immer dieses Lächeln. Und immer lässt die Erinnerung ein Gefühl von Wärme in mir aufkeimen. Hin und wieder gewinnt auch die Traurigkeit die Oberhand, jedoch stets gemischt mit dieser wohligen Besinnung auf die eigene Kindheit und das Enkelin-Sein. Im Herbst – so scheint es – werden diese Gefühle intensiver. Ende Oktober … ihr Geburtstag. Wenn draußen die gelben, roten und braunen Blätter vom Wind umhergewirbelt und die Regentropfen gegen die Fensterscheiben gedrückt werden, kommt die Familie zusammen. Versammelt um den Wohnzimmertisch aus dunklem Holz, Kaffee für die Erwachsenen, Kakao für die Kleinen. Frankfurter Kranz und Apfelmuskuchen gehören zum Standardrepertoire eines jeden Geburtstags. Ein Ritual, das seit Jahren fehlt.
Ebenso wie die kleinen, alltäglichen Rituale. Abends Nachrichten schauen. Immer mit Oma. Danach eine Ratesendung, einen Krimi oder eben auch mal Rosamunde Pilcher. Dazu eine Tasse Tee – Omas Wiesen-Variation, mit allem, was der Garten hinter dem Haus hergibt. Gespräche nebenbei. Oma lauscht meinen Ausführungen und Erzählungen über diverse Erlebnisse, Unternehmungen mit Freunden, über die Schule, später das Studium … all das, was mich bewegt.
Inzwischen sitzt jedoch niemand an diesem dunklen Wohnzimmertisch. Frankfurter Kranz gibt es Ende Oktober auch nicht mehr. Was geblieben ist, sind Fotos und Erinnerungen. Und das Bedürfnis, Oma hin und wieder mitzuteilen, was es neues in meinem Leben gibt. Nicht mehr beim abendlichen Tee- und TV-Ritual, sondern in Form von Briefen. Manchmal ist mir einfach danach, Oma ein paar Zeilen zu schreiben. Mit der Hand … auf einem Blatt Papier. Dieses verarbeite ich zu kleinsten Schnipseln, die der Wind verstreut. Oder ich bastle ein Schiffchen daraus und lasse es auf der Elbe davonschwimmen. Dann schließe ich die Augen und sehe sie vor mir. In ihrem schwarzen Rock mit Blumen darauf, dem weißen Shirt. Inmitten der Erdbeerpflanzen, freundlich lächelnd, die Augen von Fältchen umspielt.
Vielleicht ist es jetzt Zeit für ein Stückchen Frankfurter Kranz … Tina Heinz