Bittere Zeiten
Zeitzeugenbericht über die Ereignisse vom 16. Januar bis zum Mai 1945 in Magdeburg | von Walter Friesecke (Rechtsanwalt und Notar; 1886 - 1976)
Der 16. Januar 1945 brachte die zweite Zerstörung Magdeburgs. Sie kann ohne Übertreibung mit der vom 10. Mai 1631 verglichen werden. Schon vorher, so besonders am 28. September 1944, waren zahlreiche öffentliche und private Gebäude in verschiedenen Stadtteilen zerstört und schwer beschädigt worden. Am 16. Januar abends, gegen 21:30 Uhr, machten die englischen Bombergeschwader ganze Arbeit. Vom Bahnhof Neustadt bis zum Scharnhorstplatz und von der östlichen Wilhelmstadt bis zur Elbe wurde das ganze Stadtgebiet völlig verwüstet. In diesen Räumen sollen insgesamt nur noch 18 Häuser zur Not bewohnbar gewesen sein. Feindberichte meldeten, Magdeburg sei in überraschendem Angriff schwer getroffen, die Stadt könne als vernichtet gelten. In der Tat blieben nur noch wenige Bezirke übrig, in denen noch Leben war. Namentlich die Sudenburg, Teile von Wilhelmstadt und Buckau, die Gegend vom Scharnhorstplatz südlich, Teile von Cracau und Friedrichstadt, im westlichen auch der Werder. Die Zahl der Toten ist nicht mitgeteilt worden, es mögen wohl 10.000 gewesen sein. Die Einwohnerzahl der Stadt sank von 330.000 auf 130.000.
Wir erlebten den Angriff in unserem kleinen Gartenbunker. Er kam so schnell, dass uns keine Zeit mehr blieb, den Brückenpfeiler aufzusuchen. Drei, vier Stunden lang hörten wir das Niederrauschen und Bersten der fallenden Bomben. Einige schlugen in nächster Nähe ein und bewirkten, dass unser Bunker von Balken, Brettern und Ästen und dergleichen überschüttet wurde. In unmittelbarer Nähe des Bunkers, dessen Türen durch den Luftdruck eingedrückt, eine sogar aufgerissen wurde, leuchtete das helle Feuer von Brandbomben auf. Die Zeit erschien endlos. Wir saßen eng beieinander, immer damit rechnend, dass die nächste Bombe uns selbst treffen könnte. Als schließlich der Bombenhagel nachließ, fanden wir unsere Erwartung, dass unser Haus getroffen sei, bestätigt. Der westliche Dachstuhl brannte bereits lichterloh. Das Haus Löhr war durch Volltreffer völlig zerstört. Eine weitere Bombe war unmittelbar vor unserem Haus in die Elbuferböschung eingeschlagen. So war das Haus von zwei Seiten durch Luftdruck und Sog so schwer mitgenommen, dass nur die Küche, die Plättstube und die Waschküche zur Not bewohnbar waren. Aber auch in diesen Räumen waren die Türen und Fenster, diese zum Teil einschließlich der Fensterkreuze, zerstört.
In dem Kellergang unseres Hauses hatten mehrere Soldaten Schutz gegen die Bomben gesucht. Meine Aufforderung, beim Löschen zu helfen, lehnten sie ab. Sie meinten, es sei aussichtslos. Wir machten uns daher zunächst allein an die Löscharbeit. Mit Hilfe von zwei Minimax-Apparaten (einer Art Feuerlöscher – d. Red.), des Inhalts der Badewannen und anderer Behältnisse gelang es, die Ausdehnung des Brandes nach Osten zu verhindern und ihn sogar etwas zurückzudämmen. Bald kam Henning. Er half sehr fleißig, trug die halbe Nacht hindurch Wasser von der eisschollenbedeckten Elbe herbei und hielt schließlich auch die Brandwache, nachdem der Brandschutt von dem Dach heruntergeschippt worden war. Eine besonders eifrige Hilfe leisteten uns Herr Dr. Franz Hilffert mit Frau und Sohn, auch Herr Thron stellte vorübergehend einige Mann zur Verfügung, es halfen auch die Mitglieder des Selbstschutztrupps, des Luftschutzes, namentlich zwei Mädels von Löhrs, Gisela Kaempf und andere. Zwei Brandbomben staken im Gebälk auf der Ostseite des Hauses und wurden unschädlich gemacht. Bei unseren Löscharbeiten kam uns sehr zustatten, dass Ostwind wehte, der die Flammen vom Hause wegtrieb. Es war ein schauriger Anblick, im Westen auf dem ganzen Elbufer stromaufwärts und -abwärts nichts als lodernde Brände zu sehen, deren Feuer sich im Strom zwischen den treibenden Eisschollen spiegelte. Auch das Haus Zuckschwerdt brannte lichterloh, so dass eine Hilfe aussichtslos war. Gegen 3 Uhr morgens legten wir uns in Hennings Zimmer, das ohne Fenster und Türen war, zu einer kurzen Ruhe nieder.
Am nächsten Morgen erschien Dr. Lütken und Frau. Sie hatten ihre Wohnung am Skagerrakplatz mit allem Inhalt durch den Angriff verloren. Lütken hatte nur einen Handkoffer und seine Geige gerettet. Sie entschlossen sich, trotz der schwierigen Verhältnisse bei uns im Hause zu bleiben. Wir haben dann tagsüber in dem einzigen leidlich heizbaren Raum, der Waschküche, zu fünfen einige Tage gehaust, nachdem wir sie einigermaßen wohnlich eingerichtet hatten. Lütken machte sich dann mit Feuereifer an die Wiedereinsetzung der Türen und Fenster. In erster Linie musste das Erdgeschoß dichtgemacht werden, denn überall blies der Westwind durch das Haus und es waren draußen etwa 7° Celsius Kälte. Henning bekam vier Tage Einsatzurlaub und machte sich mit seinem Kameraden Frehde ebenfalls sehr nützlich. So brachten beide den Treppenaufgang vom Untergeschoß nach dem Hauptgeschoß und die nach Süden (zu Löhrs) führende Haustür in Ordnung.
In den ersten Tagen erhielten wir Verpflegung von der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt – d. Red.), schmackhafte Eintopfgerichte und dick belegte Doppelbrote. Es gelang uns dann, für die Küche einen neuen Herd für Holz- und Kohlenfeuer und für die Plättstube einen kleinen Ofen zu beschaffen. Wir konnten nun die Plättstube wohnlich einräumen. Sie diente uns als Wohn-, Ess- und Schlafzimmer. Die Büroarbeit – Rechtsanwalt und Notar Justizrat Ehrhardt hatte mir einem großen Raum als Ersatz für das zerstörte Büro Otto von Guerickestraße 25 zur Verfügung gestellt – wurde auf die Vormittage beschränkt; der Nachmittag gehörte der handwerklichen Arbeit im Hause. Dem Angriff am 16. Januar folgten einige weitere, zum Teil gleichfalls sehr schwere. Dabei wurde auch das Haus Markmann zerstört. Türen und Fenster unseres Hauses, die mit vieler Mühe behelfsmäßig wiederhergestellt waren, wurden mehrfach erneut beschädigt. Das einzige Fenster in der Plättstube musste viermal erneuert werden.
Im Laufe der ersten Monate des Jahres 1945 drangen die feindlichen Armeen von Ost und West immer tiefer in Deutschland ein. Die Hoffnung, dass Deutschland den Krieg noch gewinnen könne, war immer mehr und mehr geschwunden. Mit dem Verlust der Industriegebiete im Westen und Oberschlesien erschien eine Fortsetzung des Krieges aussichtslos. Trotzdem klammerte man sich immer noch an den letzten Rest einer trügerischen Hoffnung und man schenkte den durch Rundfunk und Presse gegebenen Zusicherungen der Männer, die es unternommen hatten, das Volk zu führen, und ihren geheimnisvollen Andeutungen über neue Waffen und eine nahe bevorstehende grundlegende Wende noch immer etwas Glauben, richtiger gesagt, man glaubte zwar nicht mehr an die Wende, aber man wünschte doch von Herzen, dass man sich irren und alles noch gut ausgehen möchte.
Indessen ging der unaufhaltsame Vormarsch der Feindarmeen weiter. Im Westen hatte, nachdem es der Gegenseite gelungen war, den Rhein zu bezwingen, jeder ernstliche Widerstand aufgehört. Im Osten wurde wohl noch an einigen Stellen erbittert gekämpft. Man war sich aber dessen bewusst, dass der Russe eine neue Großoffensive vorbereite, um Berlin zu erreichen. Ende März standen Amerikaner und Engländer bereits im Thüringer Wald, bei Kassel und Hannover, stießen auf Bremen vor und hatten das Ruhrgebiet eingekesselt.
In Magdeburg hatten schon vorher – ziemlich planlos oder doch wenig überlegt – Schanzarbeiten eingesetzt. So wurde auch an der Markgrafenstraße am Ostende der Hindenburgbrücke eine Schanze errichtet. Der Volkssturm wurde sonntags vormittags mit Schanzarbeiten beschäftigt. Mangels verständiger Führung zwischen der Partei, der der Volkssturm unterstand, und der Wehrmacht waren diese Schanzarbeiten, abgesehen von ihrer militärischen Unzweckmäßigkeit, meist völlig zwecklos. Es machte deshalb keine Freude, seine Zeit auf solche Dinge zu verwenden, da sie doch für Instandsetzung des schwer angeschlagenen Hauses viel nützlicher hätte verwendet werden können.
Ende Februar/Anfang März 1945 fanden wir auf Einladung von Max Prentzel zehn Tage lang Aufnahme in dem Erholungsheim des Arbeitsgaues XIII in Schierke. Der Aufenthalt in dem wohl erhaltenen Hause, die Ruhe, die rührende Fürsorge der Familie Prentzel und der Frieden der Harzwälder bot uns eine willkommene Erholung nach den schweren Wochen in dem größtenteils zerstörten Hause. Dankbar kehrten wir nach Magdeburg zurück. Dort stellten wir fest, dass man auf unserem Grundstück bereits ein Schützenloch als Verteidigungsstellung ausgehoben hatte…
Im März bot sich Gelegenheit, mit einem Lastwagen nochmals Sachen nach Schierke zu bringen. Wir packten etwa 17 Körbe, Koffer, Kisten und dergleichen und schickten sie nach Schierke. Nicht lange danach entschlossen sich Prentzels auf die Nachricht hin, dass die Amerikaner Nordhausen erreicht hätten, Schierke zu verlassen. Wir konnten sie in Magdeburg sprechen. Sie nahmen in Beese (Altmark) Aufenthalt. Von dort aus konnte Krista einmal anrufen. Ende März/Anfang April konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass die Amerikaner binnen kurzem in Magdeburg sein würden. Wir überlegten, was zu tun sei. Unsere Lage an der Elbe erschien uns besonders gefahrdrohend. Wir rechneten damit, dass die Elbe eine Hauptwiderstandslinie bilden und um die Elbbrücken hart gekämpft werden würde. Alle Brücken wurden zur Sprengung vorbereitet, ein Brückenkommando wurde eingerichtet. Man versicherte uns zwar, unser Haus werde bei der Sprengung der Brücke wahrscheinlich stehen bleiben, es sei nur mit Dach-, Fenster- und Türschaden zu rechnen. Es war aber auch zu befürchten, dass neue schwere Bombenangriffe auf das Gebiet beiderseits der Brücken erfolgen würden. Obgleich wir uns nur sehr ungern entschließen konnten, das Haus zu verlassen, rangen wir uns schließlich dazu durch und beschlossen, nach Zens zu gehen. Wir rechneten damit, dass dieses abgelegene kleine Dorf vom Kampf verschont bleiben würde. Am 10. April fuhr ich mit dem Rade nach Zens, erhielt dort die Zusage, dass wir notfalls unterkommen könnten und brachte auch noch meinen besten Anzug, Hennis bestes Kostüm und einige andere Sachen dorthin. Auf der Fahrt traf ich nur in Welsleben deutsche Wehrmacht an.
Am nächsten Morgen wurden an die Volkssturmmänner einige Gewehre und Panzerfäuste verteilt. Dann wurden wir eingeteilt, um die Schanzen zu bewachen. Mir fiel die völlig überflüssige Aufgabe zu, die Schanze an der Garten- und Weidenstraßenecke, die so gebaut war, dass nur Personen, aber keine Fahrzeuge passieren konnten, zu bewachen und „verdächtige Personen“ anzuhalten. Dort habe ich dann vier Stunden lang Wache geschoben. Um die sonst unnütz vertane Zeit nützlich zu verwenden, nahm ich mir einen Stuhl und einige Akten mit, die ich dort bearbeitet habe.
Am Nachmittag des 11. April wurde Panzeralarm gegeben. Ich war wieder in das Wachlokal des Volkssturms bestellt, um weiter Dienst zu tun. Als ich mich dorthin begeben wollte, rief mir ein Kamerad entgegen, ich sollte meine Binde vom Arm nehmen und nach Hause gehen. Das Dienstgebäude der Ortsgruppe Werder ging in Flammen auf. Wir wollten am gleichen Tage noch nach Zens fahren. Auf Anruf in Schönebeck erhielten wir aber die Nachricht, dass die Amerikaner dort schon eingetroffen seien. Wir mussten deshalb annehmen, dass wir nicht mehr durchkommen würden und sahen von der Reise ab.
Am nächsten Morgen, dem 12. April – es war mein 59. Geburtstag – fuhren wir zunächst mit den Rädern nach der Platzanlage des „Magdeburger Tennis- und Hockey-Clubs Grün-Rot“, um dort bis zum Einrücken der Amerikaner zu bleiben. Wir fanden aber bald, dass dies doch wohl nicht das Richtige sei, und entschlossen uns, zurückzugehen und eine andere Unterkunft zu suchen. Der diensttuende Oberleutnant auf der Brücke empfahl uns, in einen Bunker jenseits der Elbe zu gehen und dort den Angriff abzuwarten. Wir begaben uns daher mit dem Luftschutzgepäck nach dem Bunker an der Jakobi-Kirche, hielten es dort nicht lange aus. Dann folgten wir der Einladung unseres Freundes, Rechtsanwalt Dr. Theodor Martin, in sein Haus in der Lutherstraße 30 zu kommen. So fuhren wir mit den Rädern schwer beladen mehrfach von Markgrafenstr. 1 nach der Sudenburg und fanden dort herzlichste Aufnahme. Martin war in dem Haus allein mit einer seiner Angestellten. Frau Hartmann, die seit 22 Jahren bei ihm tätig ist und jetzt seinen Haushalt führte, Elisabeth und Jutta Martin waren am 11. April zu Verwandten nach Offleben gefahren; es war ungewiss, ob sie ihr Ziel erreicht hatten.
An diesem Tage wurde das Heereszeugamt in Brand gesetzt. Der Flughafen Süd wurde von den Amerikanern besetzt, der Fernsprechverkehr mit Schönebeck unterbrochen. Das Leben spielte sich in den nächsten Tagen in der Hauptsache in der Küche und in den Kellerräumen ab. Wir selbst schliefen in der sehr großen Waschküche, während Martin und Frau Hartmann im Luftschutzkeller schliefen. Die ersten Tage der „Belagerung“ verliefen leidlich ruhig. Wir erhielten sogar Besuch von Herrn Medizinalrat Dr. Andre und spielten mit ihm mehrfach Skat. Des abends wurde regelmäßig eine Flasche Wein getrunken, damit sie den Amerikanern nicht in die Hände falle. Auch der Garten bot in den herrlichen Frühlingstagen einen angenehmen Aufenthalt.
Wir fuhren in dieser Zeit noch mehrfach nach der Markgrafenstraße, um weitere Sachen zu holen. Das letzte Mal – es wird am 14. oder 15. April gewesen sein – gerieten wir in starken Schrapnellbeschuss, weil die Königsbrücke unter ständigem Störungsfeuer lag. Wir benutzten die Pause zwischen zwei Einschlägen, um in die Stadt zurückzufahren. Es folgten dann zahlreiche Angriffe auf Magdeburg durch Artillerie, Bombengeschwader, Tiefflieger … Am 17. April setzte schwerer Artilleriebeschuss ein und dauerte den ganzen Tag an. Wasser und Licht versagten. Auch die Bombenangriffe wurden fortgesetzt. So wurde der Justizpalast auf das Schwerste getroffen, die Mitte der Vorderfront gänzlich zerstört und die übrigen Teile schwer beschädigt. Der rechte Seitenflügel brannte aus. Die „Verteidigung“ der Stadt kostete 1.000 Einwohnern das Leben und nahm 12.000 Personen ihr Obdach. Am Abend dieses Tages sahen wir in der Dämmerung, wie einige deutsche Soldaten sich durch die Lutherstraße vor den Amerikanern zurückzogen. In diesen Tagen mussten unsere Frauen ständig um Lebensmittel anstehen. Am 17. April sollte es, um die Versorgung für längere Zeit zu sichern, 4 Pfund Fleisch auf den Kopf der Bevölkerung geben. Die für uns bestimmten insgesamt 16 Pfund holte Martin abends unter Artilleriebeschuss vom Fleischer, zur großen Freude aller Hausbewohner.
Am 18. April erschienen die Amerikaner. Zwei von ihnen fragten nach „Pistoll“. Ich händigte ihnen Ernsts Pistole aus. Außerdem nahm man mir meine „Fotomaschine“ (meine Voigtländer-Bessa) ab. Dann wurde das Haus Martin von den Amerikanern als Quartier in Anspruch genommen. Ein Panzer fuhr in die Einfahrt und legte dabei einen Torpfeiler um, zwei andere rissen die Mauer des Gartens ein und fuhren über Quittenbäume, Rosenbeete und Sträucher in den Garten hinein. Wir wurden aus dem Haus gewiesen. Man ließ uns eine halbe Stunde Zeit. Im Haus Richter gegenüberliegend fanden wir zwei Tage und Nächte hindurch Aufnahme. Auch hier wurden abends einige Flaschen Wein geleert, weil sie sonst vielleicht den Amerikanern in die Hände gefallen wären. Frau Richter musste ihren gesamten Sektvorrat abgeben. Es kamen immer wieder Amerikaner, die behaupteten, es sei hier eine „Snaps-Fabrik“, und sie verlangten die Ablieferung von „Snaps“. Andere wollten 150 Flaschen Champagner haben. Während dieser Tage gingen wilde Gerüchte um. Es hieß, die Männer zwischen 16 und 60 Jahren würden von den Amerikanern nach Westen verschleppt und müssten dort arbeiten. Es hieß auch, nach den Amerikanern würden die Neger kommen.
Polen, Russen, Juden und sonstige Ausländer benutzten das Wirrwarr, um nach Möglichkeit zu stehlen und zu plündern. Leider beteiligten sich auch Deutsche daran. Lebensmittellager und Eisenbahnwagen wurden beraubt, der Inhalt von Kähnen an der Elbe verteilt. Man sah Leute mit großen Mengen Öl, Margarine, Mehl, Zucker, Marmelade, Kunsthonig und anderen Lebensmitteln. Auch ein Wagen mit Sperrholz wurde von der Bevölkerung ausgeplündert. Es schien der Grundsatz zu herrschen, dass das alles erlaubt sei und das töricht sei, wer sich ausschließe.
Das Anstehen nach Wasser erforderte anfangs länger als eine Stunde. Der Brunnen erschöpfte sich schon in den ersten Vormittagsstunden und gab dann nur noch spärlich Wasser. Ich habe deshalb an den folgenden Tagen immer gleich morgens zwischen 7 und 8 Uhr Wasser geholt. Die Ausgehzeit war anfangs von 9 bis 12 Uhr beschränkt. Es sollten sich auch nur Frauen auf der Straße bewegen, die Männer sollten in den Häusern bleiben. Die Benutzung von Fahrrädern sollte nicht erlaubt sein. Es erschien auch nicht ratsam, Rad zu fahren, weil die Gefahr bestand, dass Polen, Juden und andere Ausländer sich der Räder bemächtigten. Frau Hartmanns Rad wurde aus der zeitweilig unverschlossen gebliebenen Garage sofort gestohlen.
Am 20. April morgens fuhren die Amerikaner aus Martins Haus wieder ab. Wir besetzten sofort das Haus und mussten feststellen, dass die Gäste sämtliche Behältnisse im Hause aufgebrochen und alles durchwühlt hatten. Sie hatten aber außer dem Rundfunkapparat, der Küchenwäsche, Handtücher, Taschentücher, Handschuhe und einzelnen anderen Gegenständen nichts Wesentliches mitgenommen und abgesehen vom Aufbrechen der Schränke und der Benutzung der Gardinen zum Panzerputzen, nichts mutwillig zerstört. In den nächsten Tagen besserten sich die Verhältnisse allmählich. Die Ausgehzeit wurde von 7 bis 18 Uhr, später von 7 bis 21 Uhr verlängert.
Am 21. April schien die Lage soweit geklärt, dass wir es wagen konnten, zu Fuß nach dem Askanischen Platz zu gehen. Die Ostseite der Elbe war nämlich nach wie vor von SS, Volkssturm und HJ besetzt und es wechselten Feuerüberfälle mit Gewehrfeuer. Am Askanischen Platz wurden wir durch einen amerikanischen Posten, der im Gorgass’schen Hause auf Ausguck saß, angehalten. Wir konnten aber sehen, dass unser Haus noch stand. Das Dach war durch die Sprengung der Brücke beschädigt, die Haustür und die Kellerfenster herausgerissen, ebenso ein zugemauertes Fenster im Damenzimmer wieder aufgebrochen. Die Besuche am Askanischen Platz wurden in den nächsten Tagen mit dem Rad mehrfach wiederholt. Das Ergebnis war immer das gleiche: Es wurde gekämpft, ein Herüberkommen war unmöglich. Am 21. April erschien eine Anordnung der Militärregierung, dass die Magdeburger Versorgungsbetriebe am 22. April ihren Betrieb wiederaufzunehmen hätten, während die übrigen Betriebe einen Tag später mit der Arbeit beginnen sollten. Es zeigte sich das Bestreben, baldmöglichst Ordnung zu schaffen.
Am 23. April erfuhr ich durch Rechtsanwalt Bünger, dass die Rechtsanwälte und Notare neu zugelassen werden müssten und zuvor einen Eid zu leisten hätten. Dies wurde mir bei einer Besprechung am 24. April im Justizpalast bestätigt. Auch die Richter und Staatsanwälte dürfen ihre Tätigkeit erst wiederaufnehmen, nachdem die Militärregierung sie zugelassen und die Beamten den Eid geleistet haben. Ich musste bei dieser Gelegenheit feststellen, dass mein Robenschrank durch den Luftdruck aufgesprungen und die Robe gestohlen war. Am 25. April unternahmen wir es, mit den Rädern nach Schönebeck zu fahren, und blieben dabei unbehelligt. Wir stellten fest, dass Lotte, Fuhrmanns, Martha und Agnes ohne größere Schäden davongekommen waren. Hans Fuhrmann war einen Tag lang als Volkssturmmann in Kriegsgefangenschaft, wurde aber dann entlassen.
Am 26. April gab es wieder Wasser, eine große Erleichterung für die Hauswirtschaft. In diesen Tagen wurde bekannt, dass die Grenze von Stettin über Berlin, entlang der Havelseen und Kanäle nach Magdeburg und von dort ostwärts der Elbe elbaufwärts verlaufen solle. Wir machen uns langsam mit dem Gedanken vertraut, nicht wieder in die Markgrafenstraße 1 zurückkehren zu können und die dort befindlichen Sachen verloren zu geben. Die Nachricht findet eine gewisse Bestätigung dadurch, dass die Amerikaner nicht über die Elbe gehen, obgleich ihnen dies ohne Schwierigkeiten möglich wäre. Sämtliche Elbbrücken von Barby bis Magdeburg-Neustadt sind gesprengt; nur die Autobrücke bei Hohenwarthe soll noch stehen. Es ist aber nicht möglich, hinüberzukommen.
Da wir nun damit rechnen mussten, auf vorläufig nicht übersehbare Zeit westlich der Elbe bleiben zu müssen, sahen wir uns nach einer Wohnung um. Wir fanden Herrn Bankdirektor Friedrich Dittmer, Duvigneaustraße 8, bereit, uns aufzunehmen und erhielten auf diese Weise ein neues Heim, wie wir es uns nicht besser wünschen konnten, ein behaglich eingerichtetes Zimmer mit Morgensonne, nach dem schönen Garten hinausgehend und durch eine große Flügeltür mit diesem verbunden, ein Schlafzimmer im Obergeschoß, ein daneben liegendes kleineres Zimmer, ein Bad zur Mitbenutzung und Aufenthalt im Garten. Am 3. Mai bezogen wir die neue Unterkunft beim Ehepaar Dittmer. Da es ziemlich kalt war, – die Eisheiligen hatten sich in diesem Frühjahr zehn Tage früher eingestellt – saß man abends am Kamin. Das Holz wurde vorher aus dem zerstörten Berndt’schen Haus an der Duvigneaustraße gemeinsam geholt.
Am 4. Mai wurde ich von der Militärregierung als Rechtsanwalt und Notar vereidigt, nachdem ich an diesem Tage eine Stunde, am vorhergehenden Tage vormittags drei Stunden und nachmittags zwei Stunden hatte anstehen müssen. Mit mir zusammen wurden weitere sieben Kollegen vereidigt, darunter auch Martin. Ich nahm daraufhin am 7. Mai meine Berufstätigkeit wieder auf, zunächst nur vormittags.
In der Zeit wurden die Bemühungen, nach dem Werder zugelangen, ergebnislos fortgesetzt. Eine Reihe von Magdeburgern hatten Familienangehörige jenseits der Elbe und waren sehr in Sorge, weil die Russen immer näherkamen. Einige von ihnen – so Direktor Cornehl von „Schäffer & Budenberg“ und Herr Miller von „Wilhelm Paul & Miller“ – patrouillierten dauernd an der Elbe zwischen Barby und Hohenwarthe, um eine Möglichkeit zu finden, um über die Elbe zu kommen und die Angehörigen herüberzuholen. Die Gattin des Generaldirektors Dr. Katter von Fahlberg-List wurde von amerikanischen Soldaten herübergeholt. Frau Fischer (C.W. Neumann) konnte sich nächtlicherweise von einigen beherzten Männern mittels zweier Boote aus dem Frauen-Ruder-Verein über die Elbe bringen lassen.
Am 6. Mai hörte die Schießerei an der Elbe auf. Die Russen standen an der Turmschanzenstraße. Am 7. Mai besetzten sie auch den Werder. Wir konnten am 6. Mai sehen, dass unsere Kellerfenster wieder eingesetzt waren. Der Werder lag still, das Haus schien unversehrt zu sein. Am gleichen Tage wagte es Rosemarie Grünwald, über die gesprengte, im Wasser liegende Königsbrücke nach Haus zu klettern. Sie war zur Zeit des Eintreffens der Amerikaner in Bernburg gewesen; hatte sich von da nach Magdeburg durchgeschlagen und 14 Tage auf der Westseite der Elbe verbracht, ohne ihre Eltern benachrichtigen zu können.
Der Schicksalskampf des deutschen Volkes ging inzwischen zu Ende. Der seit langem sinnlose Widerstand brach endgültig zusammen. Es wurde gemeldet, dass Hitler, Goebbels und Göring tot seien. Später wurde das widerrufen, dann aber für Goebbels und Familie bestätigt, ebenso für Hitler. Über die Art seines Todes stand zunächst nichts fest. Nach deutschen Nachrichten sollte er Berlin bis zum Letzten verteidigt haben und in der Reichskanzlei an der Spitze der dort kämpfenden Truppe gefallen sein. Nach anderer Lesart sollte er Selbstmord verübt haben …
Am 9. Mai wurde die bedingungslose Kapitulation gegenüber allen Feindstaaten bekanntgegeben. Damit fand das traurige Kapitel deutscher Geschichte sein unrühmliches Ende. Niemals ist ein tüchtiges, arbeitsames, tapferes und friedliebendes Volk schlechter geführt worden. Eigensinnige und laienhafte Führer, die für sich in Anspruch nahmen, die größten Feldherren und Politiker aller Zeiten zu sein, haben es in ungeheuerlicher Selbstüberschätzung durch eine sinnlose und frevelhafte Politik in namenloses Unglück gestürzt. Sie haben in Unkenntnis weltpolitischer Verflechtungen und der Stärkeverhältnisse der einzelnen Nationen den Krieg, der namentlich gegen Russland wohl zu vermeiden gewesen wäre, angefangen und ihn in verbrecherischer Weise fortgesetzt, obgleich er seit langem aussichtslos war, und sie haben in ihrer Verblendung manche Gelegenheiten, den Krieg durch einen verständigen Frieden zu beenden, ungenutzt vorübergehen lassen.
Am 10. Mai war Himmelfahrtstag. In den Tagen vorher wurde von amtlicher und amerikanischer Seite mehrfach erklärt, der Russe käme nicht über die Elbe. Es ging auch das Gerücht, es solle jenseits der Elbe, also mit dem Werder beginnend eine neutrale Zone von etwa 3o km Breite gebildet werden. Wir erhielten daraufhin vom Wirtschaftsamt den Bescheid, Kartoffelkarten könnten wir nur auf 14 Tage erhalten, weil dann voraussichtlich der Werder wieder zugänglich sei und wir an unsere eigenen Kartoffeln herankönnten. Am Himmelfahrtstage kamen das Ehepaar Fischer (C.W. Neumann) und Herr Krämer (Kunneth & Knöchel) mit der Alarmnachricht, die Amerikaner zögen ab, nun würden sicher die Russen kommen. Eine Nachprüfung ergab, dass nur ein Teil der Amerikaner abzog, um andere Aufgaben zu übernehmen. Angeblich wollen die Amerikaner noch 5 bis 6 Monate hierbleiben, dann sollen die Engländer die Verwaltung übernehmen. Vormittags suchte ich Herrn Generaldirektor Katter (Fahlberg-List) auf. Er erzählte mir, dass es Herrn Cornehl gelungen sei, auf die Ostseite der Elbe zu kommen und seine Familie durch amerikanische Soldaten herüberholen zu lassen. Wir verabredeten dass, wenn einer von uns nach dem Werder kommen würde, er sich um das Haus des anderen kümmern und Herrn Thron bitten sollte, einen zuverlässigen Mann in das Grundstück hineinzusetzen.
Am 11. Mai war ich vormittags wieder einmal an der Hindenburgbrücke. Die im Strom liegende Brücke wurde in der Mitte von dem inzwischen gestiegenen Wasser überspült. Unser Haus lag still da; nur in den Trümmern des Löhr’schen Hauses suchte ein Mann Holz und beschäftigte sich mit einer weißen Tür. Am Nachmittag erschien eine frühere Büroangestellte von Dr. Martin, die sich über die Elbe mit einer anderen Angestellten von Dr. Martin unterhalten hatte. Sie berichtete, auf dem Werder werde viel gestohlen – namentlich in dem Haus von Rechtsanwalt Friesecke. Sie erzählte weiter, die Männer von 17 bis 55 Jahren seien in Loburg in einem Lager zusammengefasst; auch Frauen bis zu 45 Jahren müssten arbeiten, z.B. die Schanzen wieder abbauen; Lebensmittel gebe es auf dem Werder nicht mehr, weil es an Nachschubmöglichkeiten fehle und die Russen die Lebensmittel beschlagnahmt hätten. Die Verhältnisse seien sehr schlimm …
Eine von dem Amerikaner abgeworfene Fallschirmzeitung gibt die endgültige bedingungslose Kapitulation der gesamten deutschen Armee bekannt, ebenso die Gefangennahme der Familie Göring und des Feldmarschalls Kesselring in Radstadt (Tauern). So endete die ruhmreiche deutsche Wehrmacht, die sich in zahllosen Schlachten und Einzelkämpfen hervorragend geschlagen hat, mattgesetzt durch die Unzulänglichkeit der Führung …
Einzelne Teile der Stadt haben schwer unter kriegsgefangenen Russen zu leiden. Magdeburg dient als Durchgang für alle Kriegsgefangenen, die aus dem Westen des Reiches kommen. Sie werden hier in Lagern zusammengefasst. Eines dieser Lager in der Enckekaserne hat sich auf diesem Gebiet besonders hervorgetan. Deutsche sind auf der Straße ihrer Oberkleidung und ihres Schuhwerks beraubt worden, Läden sind geplündert, Fahrräder in Mengen geraubt, Ringe und Schmucksachen ihren Trägern auf offener Straße entrissen. Auf dem Westfriedhof mussten die Bestattungen abgesagt werden, weil den Trauergästen die Kleider ausgezogen wurden. Nach einigen Tagen griffen die Amerikaner ein. In einem Gefecht sollen drei Amerikaner und 40 Russen getötet sein. Seitdem ist es etwas besser geworden. Am 12. Mai gab es wieder Strom. Wir hörten zum ersten Mal wieder den Rundfunk – keine erfreulichen Nachrichten – Dänemark begrüßt die Engländer als Befreier, die tschechoslowakische Regierung wiedergekehrt, deutsche Armeen, die noch Widerstand leisten, aufgerieben, ein weiteres Konzentrationslager in Ebensee entdeckt.
Die Verdunkelung wurde aufgehoben. Der Anblick erleuchteter Fenster täuscht einen leider noch in weiter Ferne liegenden Friedenszustand vor. Nachmittags wieder einmal an der Königsbrücke: Unser Haus liegt scheinbar ruhig da. Auf dem Vorland, namentlich in der Nähe der Arkonastraße, Badebetrieb. Wir haben an diesen Maitagen außergewöhnliche Wärme, etwa 30 Grad im Schatten. Dr. Gehrig berichtet, das Schicksal Magdeburgs sei noch immer nicht endgültig entschieden, es bestehe die Möglichkeit eines russischen Brückenkopfes westlich der Elbe, der auch Magdeburg umfasst.
Am Sonntag, 13. Mai, morgens unterhalten wir uns über die Elbe hinweg mit Familie Thron, die wir herbeirufen ließen. Es bestätigte sich, dass alle Männer bis 55 Jahren von den Russen weggebracht sind; ihr Aufenthalt ist unbekannt. Die Verpflegung ist schlecht. Throns haben freundlicherweise einen Teil unserer Sachen an sich genommen, so die Stiefel aus dem Schrank im unteren Korridor, Küchengeräte, die Stehlampe und anderes. Das Haus steht nach wie vor öde, es ist niemand drin, auch keine Russen. Die Frage der Familie Thron, wann wir herüberkämen, konnten wir leider nicht beantworten. Die Amerikaner bauen dicht unterhalb der Königsbrücke am Pionierübungsplatz eine Pontonbrücke. Am 15. Mai ist die Brücke fertig, aber nur für amerikanische Soldaten zugänglich. Es soll ein amerikanischer Posten in unserem Hause sein. Es wird erzählt, er habe sich ein Kissen aus unserem Haus geholt und auf dem Vorland ein Sonnenbad genommen
Nachmittags fuhr ich mit dem Rad nach Frohse zu Bauer Kohlschmidt, um Kartoffeln zu holen. Auf der Straße zwischen Südost und Frohse wurde ich von zwei verdächtig aussehenden Ausländern angehalten und nach einem Ausweis gefragt. Ich war überzeugt, dass sie mir das Rad wegnehmen wollten und versuchte, in beschleunigtem Tempo vorbeizufahren, wurde aber von dem einen Ausländer angestoßen und zu Fall gebracht. Dabei wurde die Lenkstange zur Seite gedreht und das rechte Pedal so verbogen, dass ich nicht weiterfahren konnte. Diesem Umstand und dem Hinzukommen anderer Radfahrer habe ich es offenbar zu verdanken, dass mir das Rad nicht geraubt wurde. Ich hatte geringfügige Abschürfungen an der rechten Hand und am rechten Knie. Bei Kohlschmidts konnte ich mein Rad wiederherrichten und die Rückfahrt unbehelligt durchführen.
Am 16. Mai Besprechung mit den Direktoren von Polte. Das Werk ist in den Händen der Amerikaner. Es darf – außer 15 Mann Küchenpersonal – niemand hinein. Im Werk sind deutsche Kriegsgefangene untergebracht, die leider dort schlimm hausen. Die Versuche, das Werk wieder in Gang zu setzen, sind bisher ohne Erfolg geblieben. Nach den erlassenen Gesetzen unterliegt das ganze Werk der Beschlagnahme, weil Hans Nathusius verhaftet und bestraft ist. Eine förmliche Beschlagnahme ist aber bisher nicht ausgesprochen.
Am 17. Mai lag die Pontonbrücke still und unbenutzt da. Ein Soldat – anscheinend Amerikaner – ging durch unseren Garten in die Garage. Herr Hermecke ist mit einem Floß aus Cracau über die Elbe gekommen. Er berichtet schlimme Dinge aus dem russisch besetzten Gebiet. Bisher angeblich 14 Selbstmorde in der Cracauer Kolonie. Als wir abends auf der Terrasse saßen, hörten wir zum ersten Mal wieder das Geräusch eines fahrenden Zuges, der sich zwischen Magdeburg und Buckau bewegte. Auch aus Braunschweig ist ein Zug mit russischen Kriegsgefangenen angekommen. Deutsche Kriegsgefangene sind in Schönebeck in der Radiatorenfabrik.
Über das endgültige Schicksal von Magdeburg ist noch nichts bekannt. Bald weiß man ganz bestimmt, dass in zwei Wochen die Russen ganz Magdeburg und noch dazu einen Brückenkopf besetzen werden, bald heißt es mit ebenso großer Gewissheit, dass die Russen bei Loburg und anderweitig schanzen und sich über eine Freizone zurückziehen. Es wird auch erzählt, dass die Amerikaner Munition stapeln und dass bei Torgau schon Krieg zwischen Russland und USA sei. Wir gewöhnen uns daran, auf solche Gerüchte nichts zu geben.
Das Pfingstfest am 20. und 21. Mai verlebten wir ruhig. Am 20. Mai versuchten wir eine neue Unterhaltung über die Elbe mit Familie Thron, leider vergeblich, weil die Russen am Donnerstag vorher solche Gespräche untersagt hatten. Unser Haus ist übrigens nicht von einem amerikanischen, sondern von einem russischen Posten besetzt. Am 21. Mai waren wir mit den Rädern in Schönebeck. Bei dieser Gelegenheit stellte es sich heraus, dass ich unwissentlich beinahe zum Kohlenklauer geworden wäre – der Keller im Lorenzweg, den ich aufgebrochen hatte und in dem die Briketts schon zur Abfahrt bereitstanden, gehörten nicht den Familien Saling und Peters, sondern anderen Mietern.
Am 23. Mai erhielten wir Nachricht von Prentzels. Margrit war mit einem Lastauto von Seehausen (Altmark) über Magdeburg nach Schönebeck gekommen, hatte uns in Magdeburg nicht finden können und dann Lotte in Schönebeck aufgesucht. Prentzels haben von Beese nach Seehausen übersiedeln müssen. Max Prentzel ist am 27. Mai, zwei Tage vor seiner Silberhochzeit, gefangen genommen worden. Prentzels haben nun fast alle ihre Möbel und Kleidungsstücke verloren. Auch Geld konnten sie auf ihre Sparbücher in Seehausen nicht erhalten. Lotte gab ihnen einige Kleidungsstücke und 200 Reichsmark.
Am 24. Mai zog ein Teil der Amerikaner ab. Sie wurden durch Engländer ersetzt. Einige Häuser in unserer nächsten Nähe wurden von ihnen in Anspruch genommen. Durch unser Dach regnet es stark durch. Da der Dachdecker trotz mehrfacher Zusage nicht erscheint, beschäftigen wir uns zur Abwechslung damit, das Dach auszubessern, indem wir es vom Boden aus mit den vorhandenen Ziegeln behelfsmäßig zuhängen. Fräulein Söchting, Sekretärin von Alfred Nathusius, berichtet, Herr Nathusius sei mit seiner Frau und einer Tochter von Grüneberg (Nordbahn) abgefahren und angeblich auf der Flucht erschossen. In seinem Hause, das sie betreut, sind etwa zehn Personen einquartiert.
Am 25. Mai hieß es, die Russen seien abgezogen. Wir waren daraufhin am 26. Mai wieder einmal an der Königsbrücke, mussten aber feststellen, dass die Russen nach wie vor da sind. Ein Kommando von etwa fünf Mann liegt in unserem Hause. Angeblich sollen die Russen nun bestimmt am 5. Juni das Ostufer räumen. Man erzählt sich aber, dass sie alles, was sie gebrauchen können, mitnehmen, auch Möbel.
Im Polte-Werk ist ein Lager deutscher Kriegsgefangener eingerichtet. Sie werden sehr schlecht verpflegt und bitten über den Zaun hin um Brot und andere Lebensmittel. Frau Herrling fuhr heute im Auftrage der Hausgemeinschaft Duvigneaustraße 8 zu Polte und gab dort Lebensmittel und einen Blumenstrauß für die deutschen Kriegsgefangenen ab. Am Sonntag, 27. Mai, gegen Mitternacht traf Achim Zirkler in der Heimat ein. Er war im März bis zu seinem Ersatztruppenteil in der Nähe von Wien gekommen, aber bis zum Waffenstillstand nicht mehr eingesetzt, und hatte sich dann mit seinem Kameraden nach Westen gewandt. Bei Regensburg wurde er von den Amerikanern gefangen genommen, durch mehrere Lager geführt, schließlich entlassen und mit Kraftwagen von Nürnberg nach Magdeburg gebracht. Die Freude war bei Frau Zirkler groß. Am 28. Mai hatte ich Gelegenheit, den Ing. Jung zu sprechen, der vom Werder gekommen war. Die Russen hatten von ihm bei Androhung von Todesstrafe verlangt, er solle ihnen kurzfristig elektrisches Licht verschaffen. Da er das nicht konnte, ist er nachts durch die Elbe geschwommen und trotz Beschuss unverletzt herübergekommen. Nach seiner Schilderung sind die Zustände besonders in den kleinen Ortschaften wie Heyrothsberge, Biederitz, Möser, Hohenwarthe, sehr schlimm. In Friedrichstadt und Cracau, mit Ausnahme der am Rande liegenden Häuser, soll es besser sein. Noch günstiger auf dem Werder. Jung hat sich eine Zeitlang im Grundstück Heinrichshofen vor den Russen verborgen gehalten und ist von Frau Thron verpflegt worden. Auch bei Throns haben die Russen geplündert. In Cracau ist ein Gefreiter zum Bürgermeister ernannt. Er hat befohlen, dass russische Offiziere gegrüßt werden müssen. Zahlreiche deutsche Flüchtlinge sind in einem Lager zusammengefasst und warten darauf, über die Elbe kommen zu können. Die abziehenden kriegsgefangenen Russen müssen jenseits zu Fuß weitergehen und werfen dann alle entbehrlichen Sachen weg, die sie westlisch der Elbe zusammengeraubt haben. Diese werden dann auf Befehl der Russen von Frauen aus Cracau und Friedrichstadt zusammengeholt und verbrannt. Alle Männer von 17 - 65, Frauen von 17 - 45 müssen arbeiten. Techniker, Ingenieure, Facharbeiter jeder Art werden nach Osten abtransportiert. Die Verpflegung ist schlecht: 700 g Brot u. etwas Pferdefleisch in der Woche. Über die lange Brücke darf man nur mit besonderer Genehmigung gehen. Am 29. Mai hieß es, die Russen seien im Abzuge. Leider mussten wir uns vom Gegenteil überzeugen. In unserem Hause liegt nach wie vor eine Brückenwache von 8 - 10 Mann. Neben der Strombrücke wird eine feste Behelfsbrücke gebaut, die anscheinend schon weit fortgeschritten ist.
In diesen Tagen machen mir verschiedene verhaftete Fabrikdirektoren, deren Verteidigung ich übernommen habe, sehr zu schaffen. Mehrere Autofahrten nach Schönebeck zu Besprechungen wegen der beiden Direktoren des Junkerswerks, die beide in Haft sind, der eine weil er ohne Erlaubnis nach Ballenstedt gefahren ist, um seine Tochter vor einem angeblich unmittelbar bevorstehenden Einmarsch der Russen in Sicherheit zu bringen, der andere, weil er zu Unrecht beschuldigt ist, für das KZ Buchenwald tätig gewesen zu sein. Viel Arbeit verursacht mir auch Frau Goebbels, deren Mann, technischer Direktor einer Pappenfabrik in Westerhüsen, auf Grund falscher Anschuldigungen von Mitarbeitern verhaftet ist. Das Denunziantentum blüht. Die Amerikaner sind erstaunt über das Ausmaß der Anzeigen von Deutschen gegen Deutsche.
Am 30. Mai wurde der frühere Gauleiter Jordan aufgegriffen u. im Hause Seldte, Humboldtstraße, festgesetzt. Er musste auf der Straße Benzin auffüllen und wurde dabei von englischen Soldaten vor der empörten Bevölkerung geschützt. Auch die Bitte eines ehemaligen deutschen Strafgefangenen, ihm nur drei Mal in den Hintern treten zu dürfen, wurde nicht erfüllt.
Rechtsanwalt und Notar
Walter Friesecke
geb.: 12.04.1886;
gest.: März 1976 in Karlsruhe
(einst wohnhaft in der
Markgrafenstraße 1, 39114 Magdeburg); Walter Friesecke war verheiratet und hatte vier Söhne, von denen einer, Ernst Friesecke, im Krieg gefallen ist. In den 1950-er Jahren zog er aus Magdeburg nach Eisenberg in der Pfalz. Die Söhne Henning, Hans und Walter lebten mit ihren Familien bereits in der Schweiz und in Hamburg bzw. Kiel.
MAGDEBURG KOMPAKT
Heft Nr. 87 | 1. Februar-Ausgabe 2017
(Text gekürzt und redaktionell bearbeitet; Der Text ist ein authentisches Zeitdokument und wurde von der Redaktion nicht inhaltlich verändert.)