Aufbruch ins Unbekannte
Von allem Neuen geht eine große Faszination aus und unser menschlicher Geist lässt sich davon nur allzu leicht verführen. Die Geschichte kennt mittlerweile einige Beispiele für negative Folgen von Massenerscheinunge. Dennoch wird die sogenannten Digitalisierung als verheißungsvolle Zukunft angepriesen. Ein Beitrag zum Nachdenken.
Das Wort Digitalisierung schwebt wie eine Art Erlösungformel über allem. An Prophezeihungen über die Zukunft war die Menschheit noch nie arm. Und schauen wir auf die Gesamtbilanz, dann kann sich das Ergebnis durchaus sehen lassen, zumindest für einen großen Teil der Bewohner der so genannten Industrienationen. Individuell mag das mancher anders sehen. Aber was bedeutet dieser Begriff, dass sich alles ins Digitale wandeln würde?
Gehen wir zurück an den Anfang: Zunächst war da der Lochstreifen. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts erhielt der Webstuhl durch diskrete Auslassungen in Lochstreifen die Informationen über das zu webende Muster. In den 1930er Jahren entwickelten Alonzo Church und Stephen Kleene den Lambda-Kalkül. Schon das war eine universelle Programmiersprache. In den 1950er Jahren verbreiteten sich in den USA die ersten drei praktisch eingesetzten höheren Programmiersprachen. Es dauert gar nicht mehr lang, bis Taschenrechner und digitale Uhren sowie viele chipgesteuerte Haushaltsgeräte in den Alltag einzogen. So neu ist das Digitalisierungsthema also nicht. Unsere technische Lebenswelt ist schon seit einigen Jahrzehnten digital. Der Durchbruch kam mit dem Siegeszug des PCs und schließlich als sich Mitte der 1990er Jahre immer mehr Menschen ans Internet anschlossen.
Die heutige Verwendung des Wortes Digitalisierung bezieht sich auf eine neue Qualität der Vernetzung und Automatisierung. Hielten bereits in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Roboter Einzug in die Industrie, werden sie nun mehr und mehr untereinander kommunizieren und selbstständig komplexe Arbeitsprozesse leisten. Und es klingt wundervoll, wie damit Proklamationen über Fortschritt und Lebenserleichterung verbunden werden. Zweifelsfrei ist damit in zahlreichen Bereichen der Verlust von Arbeitsplätzen verbunden. In der Massenfertigung und bei standardisierten Erfassungsarbeiten in Dienstleistungsbranchen werden dauerhaft weniger Menschen Beschäftigung finden. Wie mit den gesellschaftlichen Auswirkungen umzugehen sein wird, bleibt derzeit reine Spekulation. Aber nicht nur das. Jede Vorstellung von einer künftigen digitalisierten Welt ist ein Orakel.
Kritiker, die Augenmaß fordern oder vor möglichen Fehlentwicklungen warnen, werden schnell mit dem Wort Modernisierungsverweigerer diffamiert. Dabei sollte manche historische Erfahrung, die zu Massenentwicklungen führte, wenigstens einen bedenkenswerten Ansatz liefern. Hätte man 1885 Carl Benz zeigen können, was innerhalb von 100 Jahren aus seinem „Benz Patent-Motorwagen Nummer 1“ an Mobilisierungssystemen mit weltweit rund 31,7 Millionen Straßenkilometern, Ausbeutung der Ölvorkommen und gewaltiger Schadstoffbelastungen geworden ist, hätten er und andere seine Erfindung möglicherweise kritischer betrachtet. Massenhafte Nutzungen bergen eben neben den Vorteilen auch eine Menge Problempotenziale. Wenn heute niemand wirklich sagen kann, wie sich Digitalisierung im globalen Maßstab auswirken wird, sollten Menschheitserfahrungen mit Massenphänomenen nicht nur unter Glanzlichtern stehen, sondern ebenso vorsichtig kritisch beäugt werden. Digita0lisierungsanimateure, die für die Vorwärtsbewegung ausschließlich mit dem Argument hantieren, die Menschheit hätte immer eine Lösung für jedes Problem gefunden, verkennen die Kraft und Dynamik innerhalb eines Prozesses, der durch Milliarden Teilnehmer bewegt wird.
Digitalisierung ist zunächst nur ein Begriff. Dessen Bedeutung und Inhalt entsteht und erweitert sich erst mit allen realen Ereignissen und Erfahrungen, die damit verknüpft werden. Werfen wir zuerst einen Blick auf einige negative Entwicklungen: 2014 wurden bei Yahoo Daten von 500 Millionen Nutzern entwendet. Zwei Jahre später versuchten Kriminelle mehrfach, in den Datenverkehr des globalen Zahlungssystems SWIFT einzubrechen. Bei einem erfolgreichen Versuch stahlen sie im Februar 2016 mindestens 81 Millionen Dollar von der Zentralbank Bangladeschs. Große oder technikaffine Unternehmen, staatliche Institutionen sowie Netzwerke sind permanent Angriffen von sogenannten Hackern ausgesetzt. Auch in der privaten Sphäre wird man vor nervigen Spam-Mails bishin zu schadhaften Angriffen auf den eigenen Rechner keine Ruhe mehr bekommen. Laut einer Kaspersky-Lab-Studie „Spam im Jahr 2016“ betrug der Spam-Anteil im vergangenen Jahr 58,31 Prozent aller versendeten E-Mails. Damit stieg der Anteil gegenüber 2015 um 3,03 Prozent. Die meisten schädlichen E-Mails (14,13 Prozent und damit rund jede siebte Mail) waren an Nutzer in Deutschland adressiert. Besonders beliebt als schädlicher Anhang in den Spam-E-Mails waren Trojaner, die Ransomware auf die Rechner der Nutzer luden. Ganz vorn dabei war das berüchtigte Schadprogramm Locky. Von, der westlichen Welt feindlich gesinnten Staaten bzw. Organisationen, sind vielleicht irgendwann erfolgreiche Angriffe auf unsere sensible Infrastruktur denkbar. Flächendeckende Störungen der Strom- und Wasserversorgung oder der Telekommunikation können heute zu empfindlichen Beeinträchtigungen des Lebens führen. Das ist alles bekannt, und natürlich wird in solchen Bereichen mit besonderer Aufmerksamkeit für die Sicherheit gearbeitet. Doch je komplexer und größer ein System wird, umso mehr Angriffsmöglichkeiten entstehen.
Gleichwohl haben der Vernetzungsaufwuchs, der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) und die Entwicklung neuer technischer Systeme Vorteile. Manche Wege kann man sich heute sparen, jede Art von Information ist jederzeit überall verfügbar und mit anderen bleibt man über Grenzen und Kontinente hin im Kontakt oder lernt gar durch persönliche Fähigkeiten, Hobbys oder ein Engagement für wissenschaftliche, politische oder soziale Aspekte Gleichgesinnte rund um den ganzen Globus kennen. Wesentliche Vorteile der Digitalisierung sollen darin bestehen, Zeit zu sparen. Solche Argumente befördern häufig eine gewisse Schönfärberei.
Betrachten Sie einmal Ihre persönliche Wahrnehmung beim Thema Zeit. Selten begegnet man Zeitgenossen, die einen Job leisten, für Familie und Kinder Verantwortung tragen und darüber reflektieren, dass sie an irgendeiner Stelle mehr Zeit gewonnen hätten. Eher das Gegenteil ist der Fall. Eine sehr schlichte Erklärung könnte dieses Phänomen rechtfertigen. Statistisch hat sich in Deutschland die Jahresarbeitszeit mit rund 2.000 Stunden im Jahr 1970 bis heute um mehr als 600 Stunden auf durschnittlich unter 1.400 Stunden reduziert. An längeren Arbeitszeiten kann man einen Zeitmangel eigentlich nicht festmachen. Möglicherweise lässt sich die gefühlt knappe Zeit eher darauf zurückführen, dass einerseits immer mehr technische Geräte ins persönliche Leben Einzug halten – die benutzt, gewartet, repariert und wieder entsorgt werden müssen – und andererseits, weil über manche permanent Nachrichten und Informationen in einer Fülle hereinbrechen, sodass diese fortwährend Tageszeit verschlingen. Die vielen praktikablen Alltagshelfer wie ans Internet angeschlossene Kühlschränke, per Smartphone steuerbare Heizungs- und Wohnraumbeleuchtung bzw. Überwachungssysteme mögen vielfach den Eindruck von Modernität und Erleichterung vermitteln. Dennoch braucht jedes System zusätzliche Geräte und Steuerungselemente, Wartung und Reperatur. Mögliche Angriffsflächen, die sich geviewte Kriminelle zu Nutzen machen könnten inklusive.
In der Entwicklung – erste Versionen sind bereits erhältlich – sind bereits Sex-Roboter. Der Mensch liebt Maschinen und bald sollen sie ihn lieben. Der menschliche Geist ist leicht verführbar, insbesondere wenn es um Erlebnisse geht. Doch Kathleen Richardson, Initiatorin der „Kampagne gegen Sexroboter“, fordert einen Entwicklungsstopp. Sie befürchtet verheerende Folgen: „Das lässt die Idee zu, menschliche Beziehungen seien optional, und Bedürfnisse könnten von Maschinen gestillt werden. Aber das stimmt nicht. Man braucht andere Menschen.“ Dauerhaft könnte das zu mehr Ungleichheit, zu Verlust von Empathie und Verseinsamung führen.
Motor all dieser Entwicklungen ist immer die Unruhe des menschlichen Geistes mit seinem steten Streben nach Neuem. Denkt man die Entwicklung wirklich konsequent weiter, müsste man annehmen, irgendwann genügt es dem Hirn, sich von den eigenen Produkten faszinieren zu lassen. Je mehr Lebenszeit pro Tag vor Bildschirmen und damit vorrangig in inszenierten Widerspiegelungen verbracht wird, um so weniger Potenzial bleibt für reale Millieus übrig. Im Kern ist es die Nutzungsdauer, die unser Leben entscheidend verändert und oft ist es die Illusion, aus den reinen Informationsinhalten einen persönlichen Nutzen ziehen zu können. Stellen wir uns nun noch vor, welche sinnstiftenden Tätigkeiten bei einer zunehmenden Anzahl von Menschen entstehen sollten, die aus Arbeitsprozessen herausfallen. Im 20. Jahrhundert wurden Leute unter der Glückserwartung, Geld von Automatenspielen zu gewinnen, abhängig. Heute geraten Jugendliche und selbst Erwachsene in eine Spielabhängigkeit, deren Lohn einzig ein virtueller Sieg ist.
Die fortschreitende Vernetzung wird sicher manchen schönen Effekt für unser Sein hervorbringen, aber eben auch Schattenseiten haben. Die Schattenseiten eines weltweiten virtuellen Börsenhandels erleben wir immer wieder. Mittlerweile erreichen sogenannte Kryptowährungen Wertsteigerungen dadurch, dass sie von mehr Menschen gekauft werden. Ein realer Wert existiert nicht, sondern nur die Vorstellung vom steigenden Wert über Rechenspeicher. Die Vorstellung ist bizarr, aber die Digitalwährung hält bald Einzug in den weltweiten Börsenplätzen. Die schöne neue Welt bleibt ein Aufbruch ins Unbekannte. Als Entdecker wie Columbus aufbrachen, gingen ein paar Menschen ein Risiko ein, heute ist es die Mehrheit der gesamten Menschheit. Thomas Wischnewski