Aufbruch in welche Zukunft?

Jede nachwachsende Generation steht vor der Herausforderung, unter den gegebenen Bedingungen ein selbstbestimmtes Leben anzunehmen und zu meistern.
Heute existieren jedoch Faktoren, für die es in der Menschheitsgeschichte keinerlei Erfahrungen gibt.
Einige Fragen sollen nachfolgend beleuchtet werden.

Von Thomas Wischnewski

Die Mess- und Analyseintensität der Gegenwart durchleuchtet jeden Lebensbereich in einer Durchdringung, wie sie die Menschheit noch nie erlebt hat. Und je mehr Kennzahlen über Trends und Entwicklungen vorliegen, umso mehr Probleme und Handlungsdruck werden daraus offenbar erzeugt. Deshalb scheinen Berichte über nachwachsende Generationen und deren Zukunft häufig negative Prognosen aufzustellen. Aber es gibt in der Tat Beklagenswertes: So erklärte Anfang August der Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, Jörg F. Maas, dass 6,2 Millionen Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben könnten und jeder fünfte Grundschüler ebenfalls Lesemängel aufzeige.

„Schulen stehen vor großen Herausforderungen. Sie müssen zum Beispiel Kinder von Eltern, die nicht hier groß geworden sind, integrieren. Eine andere Aufgabe, die sich ihnen stellt, ist die Inklusion. Studien zeigen, dass Kinder, denen regelmäßig zu Hause vorgelesen wurde, mit höheren kognitiven Fähigkeiten und einem umfangreicheren Sprachschatz in die Schule kommen“, so Maas in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Erzieherinnen als auch Grundschullehrer aus Magdeburg klagen vermehrt über Erstklässler, die inzwischen mit mangelnden Sprachschwierigkeiten eingeschult werden. Und dabei handele es sich um Kinder ohne Migrationshintergrund. Andere hätten Schwierigkeiten einen Stift zu halten. Oft bekennen solche Grundschüler, dass ihre Eltern nie mit ihnen gemalt hätten oder dies wegen des kindlichen Protestes vorschnell aufgegeben hätten. Prof. Dr. Markus Karp vom Wissenschaftlichen Beirat dieser Zeitung berichtet, dass Studenten jüngster Semester an seiner Hochschule Berlin-Wildau kaum noch zu einem Buch, geschweige denn zu einer Zeitung griffen. Gedruckte Werke und wissenschaftliche Schriften konsumieren sie entweder per Vorlesefunktion oder sie schauen sich Videos über solche Bücher an.

Ohne eigenhändige Verschriftlichung von aufgenommenen Informationen sinkt die Merkfähigkeit für Wissen. Die Vorstellung, alle Informationen seien online vorhanden und jederzeit abrufbar, wird dafür angeführt, dass weniger auswendig gelernt werden müsste. Solchen Argumenten sei aber noch der Grundsatz vorgehalten: Was nicht im Kopf ist, kann nicht gedacht werden! Es geht ja nicht allein um auswendig gelernte Zahlen, Daten und Namen, sondern darum, dass sich Zusammenhänge und logische Ableitungen nur aus dem vorhandenen Wissensschatz im Hirn erzeugen lassen. Nach welchem naturwissenschaftlichen Gesetz oder nach welchen Formeln wollte man online suchen, wenn man gar nichts mehr davon weiß? Der geistige Schatz sitzt immer noch vor dem Bildschirm. Die Bequemlichkeit, die aus Online-Möglichkeiten entstehen mag, ist jedoch nur eine Seite der Medaille.

In Vorgenerationen konnten Eltern trotz technischen Fortschritts ihren Kindern stets einen Verhaltens- und Werterahmen vermitteln. Die Welt des Internets löste in nur 20 Jahren manches Fundament auf. Eltern können da weder mit Vorbildern gegensteuern noch Folgen aufzeigen. Vor allem dann nicht, wenn sie selbst permanent am Smartphone hängen. Ein Sprachmangel bei Erstklässlern lässt darauf schließen, dass dessen Erziehungsberechtigte kaum oder gar nicht vorlasen und nicht ausreichend mit ihrem Kind kommunizierten. Sicher gab es schon immer Sonderlinge in der Schule. Doch bei einer kleiner werdenden Alterskohorte aufgrund demografischer Veränderung fallen natürlich Kinder oder Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten anders ins Gewicht.

Doch die Zahlen über psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen müssten eigentlich manchen Aufschrei erzeugen. „Psychische Auffälligkeiten und Störungen gehören zu den häufigsten chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Jüngere Schätzungen gehen davon aus, dass weltweit bis zu 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten aufweisen. In Industrienationen tragen psychische Störungen zu einem beachtlichen Teil zur Krankheitslast und einer verminderten Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen bei und sind daher von erheblicher Public Health-Relevanz. Etwa 50 Prozent aller psychischen Erkrankungen entstehen bereits bis zu einem Alter von 14 Jahren, bis zu einem Alter von 18 Jahren steigt dieser Anteil auf 74 Prozent“, heißt es dazu im diesjährigen Bericht über psychiche Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Während im Jahr 2009 insgesamt etwa 10,1 Millionen mit einer Diagnose für psychische Störungen bei Heranwachsenden angegeben wurden, waren es im Jahr 2017 bereits knapp 14,5 Millionen.
 

Diagnoseprävalenz (Kennzahl für die Krankheitshäufigkeit) für psychische Störungen insgesamt für die Jahre 2009 und 2017 (A) sowie deren relative Veränderung zwischen 2009 und 2017 auf Ebene der 402 Kreise auf Basis bundesweiter vertragsärztlicher Abrechnungsdaten bei Kindern und Jugendlichen bis einschließlich 17 Jahre (B). Quelle: Bericht zu Psychischen Störungen bei Kinder und Jugendlichen vom 1. Januar 2019.

(A)
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Nun wird seit Jahren häufig ein gestiegener Leis-tungsdruck für solche Auffälligkeiten genannt. Vielleicht ist es jedoch auch umgekehrt. Dass häufiger in der frühen Kindheit Leistungsbereitschaft, Leistungs- und Konzentrationsfähigkeiten weniger ausgebildet werden als noch bei Generationen weit vor der Jahrtausendwende. Auf diese inneren, unbewussten Fundamente bauen junge Menschen dann später auf. Kinder kann man dafür kaum verantwortlich machen. Für diese Prägung sind allen voran Eltern ausschlaggebend. Wer einen gewissen Forderungsdruck nicht erlebt hat, bricht natürlich schneller bei späteren Anforderungen zusammen.

Fehlende Zukunftsorientierung, die Eltern heute ungenauer geben können, und eine enorme Reizüberflutung mögen natürlich genauso negativ wirken. Besorgniserregend ist wohl eher, dass vorrangig der äußere Druck auf Heranwachsende als Erklärung herhalten muss und seltener die Prägung der inneren Voraussetzungen. Was historisch bisher einmalig in der Menschheitsgeschichte ist, dass so viele Kinder und Jugendliche überhaupt therapeutische Unterstützung erhalten. Und es muss zumindest die Frage gestellt werden, wie sich dies auf deren künftige Lebensphasen auswirkt. Möglicherweise werden solche Lebenshilfen zur Normalität. Welche Wirkungen wird dies auf die Gesellschaft haben? Die Generation der über 70-Jährigen ist selten in psychotherapeutischer Behandlung. Die vorherrschenden Diagnosen sind dort altersbedingt demenzielle Erkrankungen.

Auch die Einstellungs- und Informationsnutzung bringt völlig neue Fragestellungen für die Entwicklung heutiger Jugendlicher auf die Tagesordnung. Bisher wurde noch jede Generation im Analogzeitalter in die Medien- und Unterhaltungskanäle der Erwachsenen eingefangen. Die Phase der Pubertät lässt junge Menschen ganz natürlich abgrenzende Musik, Sprache und Mode gegenüber ihren Eltern hervorbringen. Theoretisch können heutige Jugendliche in den Werte- und Einstellungskanälen dieser Prägezeit viele Jahre lang verharren. Einfach weil sie online vorhanden sind. Welche Fähigkeiten werden dadurch eventuell gefördert und welche eventuell vermindert?

Die moderne Diskussions(un)kultur in sogenannten sozialen Medien zeigt, dass im Sendungsbewusstsein jeder über alles seine Meinung kundtun kann, aber im Detail erlebt man eben, dass viele Gedanken verkürzt sind oder gar dämlich sind, Inhalte gar nicht richtig gelesen wurden, Vorschnelle Schlüsse und Vorurteile sichtbar werden bzw. über entfernte Realitäten geurteilt wird, die selbst nie erfahren wurden. Und da Heranwachsende wie Erwachsene die Entwicklung heute parallel mitmachen, erscheint fast logisch, dass ständig ein flutartiges ungerechtes Begriffsetikettieren stattfindet, aber selten noch Debatten. Sogenannte Shitstorms sind solch ein Auswuchs. Schafft es die junge Generation, Gelassenheit zu entwickeln oder trägt sie ein permanentes Kontra-Verhalten durchs ganze Leben?

Die unübersichtlichen Möglichkeiten der Moderne würden vielen Jugendlichen zu schaffen machen. Das beklagen sie häufig selbst. Doch was sind denn die Säulen eines Lebens? Selbstständigkeit erwerben, möglichst eine sinnstiftende Tätigkeit ergreifen, ein soziales Umfeld pflegen, eine Familie bzw. Partnerschaft aufbauen und erhalten. Reibungen zwischen Menschen, der Verlust an Freude bei der Arbeit über viele Jahre, Brüche, Scheitern, Glück und Zufriedenheit – all diese Lebensbewertungen erlebt jeder Mensch, egal, ob er wenige oder viele Wahlmöglichkeiten hätte.

Das Springen von einem Ausprobieren zum nächsten, anstatt eine Aufgabe oder Herausforderung durchzustehen, trägt eher dazu bei, dass Erfahrungskompetenzen erst in immer spätere Lebensphasen verschoben werden. Wer ständig etwas Neues ausprobiert, wird natürlich Zufriedenheitsgefühle über geglückte Aufgaben, über einen gelungenen Lebensabschnitt oder den Erwerb von Problemlösungsfähigkeiten seltener erfahren. Wahrscheinlich ist, dass solche Entwicklung zu längeren Unzufriedenheitsphasen führt.

Übrigens studieren derzeit 2,7 Millionen junge Menschen in Deutschland und nur 1,1 Millionen absolvieren eine Ausbildung. In welchen Tätigkeiten will eine künftige akademische Mehrheit gegenüber den vielen normalen Aufgaben im Staate eigentlich glücklich werden? Nicht einmal als erfolgreicher Influencer benötigt man ein Abiturzeugnis. Und wie wird eine Generation, die zunehmend die Welt am Bildschirm beschaut, die Wirklichkeit im Zusammenleben und die Lebendigkeit in Städten verändern? Wir wissen es nicht. Vielleicht dreht sich das Blatt auch wieder hin zu mehr realen Unternehmungen und zu Pragmatismus. Aber ob das dann nicht zu anstrengend ist?

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