Anfangs war alles anders
Alt-Oberbürgermeister Dr. Willi Polte über Ausgangssituationen und Hürden von 1990 in Magdeburg
Meine aktive Teilnahme an dem Aufbruch- und Umbruchprozess 1989/1990 hatte zu einem gewissen Bekanntheitsgrad geführt und im Zuge der ersten freien Kommunalwahlen vom 6. Mai 1990 wurde ich einer der 150 gewählten Mitglieder der Magdeburger Stadtverordnetenversammlung. Da meine Partei die meisten Mandate erlangte, ergriff ich die Initiative und nahm als Parteivorsitzender und Spitzenkandidat zu den anderen gewählten Gruppierungen Kontakt auf (damals 19 Parteien und Organisationen), um eine hinreichende Mehrheit für die Wahl des Oberbürgermeisters zu organisieren. Dies gelang und so wurde ich am 31. Mai 1990 nach 57 Jahren der erste frei gewählte Oberbürgermeister unserer Stadt. Meine Amtszeit begann an der Nahtstelle von der Zweistaatlichkeit zur Deutschen Einheit, und sehr schnell wurde deutlich, dass dies Herausforderungen mit sich brachte, wie sie sich nur nach einem Krieg oder einer Revolution stellen. Wo nun aber anfangen und mit welchem Personal? Die gesamte bisherige Stadtverwaltung musste in eine neue Struktur gebracht werden und für die Verwaltungsspitze brauchten wir im Interesse einer glaubwürdigen politischen Erneuerung zu einem gewissen Teil neues und hinreichend qualifiziertes Personal.
Laut Verfassung der DDR waren „Kommunalverwaltungen örtliche Organe der zentralen Staatsmacht“ und die Kommunalpolitik war weisungs- und rechenschaftspflichtiger Teil sozialistischer Staatspolitik. Nach der neuen erst im Mai 1990 beschlossenen Kommunalverfassung galten nunmehr für die Kommunen die Grundsätze der Kommunalen Selbstverwaltung.
Dies bedeutete: eigene Finanzhoheit (Finanzverantwortung), eigene Personalhoheit, eigene Planungshoheit, eigene Organisationshoheit, eigene Gebietshoheit, eigene Satzungshoheit. Der völlig veränderte Rechtsrahmen (mit Übergangslösungen) musste gelernt und in die Praxis umgesetzt werden.
Die bisherigen Stadtbediensteten waren erkennbar verunsichert, teilweise alten Denkkategorien verhaftet oder standen der neuen Entwicklung ablehnend gegenüber. Unser Ziel war, ein dem Neubeginn offen gegenüber stehender Personalkörper, sowohl bezogen auf den hauptamtlichen Teil der Stadtverwaltung (d. h. der Oberbürgermeister und alle festangestellten Stadtbediensteten) als auch auf den ehrenamtlichen Teil der Stadtverwaltung, also die gewählten Stadtverordneten, heute Stadträte genannt, zu schaffen.
Es galt Verwaltungshandeln nach rechtsstaatlichen Grundsätzen und mit hoher Eigenverantwortung neu zu lernen. Damit waren personelle Neubesetzungen, Umbesetzungen und Evaluierungen unerlässlich. Für alle galt letztlich der Grundsatz: „learning by doing“. Lag übrigens die Anzahl der Stadtbediensteten im Jahr 1990 bei rund 18.000, hat sich ihre Zahl gegenwärtig auf ca. 3.000 reduziert (Kernverwaltung).
Ganz schnell sollten alle in den Montagsdemonstrationen und Bürgerversammlungen benannten vielfältigen Defizite des Alltagslebens beseitigt werden, und die blühenden Landschaften quasi per Knopfdruck entstehen. Wir alle mussten aber die Erfahrung machen, dass nur in einer Diktatur zu lösende gesellschaftliche Aufgaben in der Regel aktartig entschieden werden, in einem demokratischen Rechtsstaat dagegen vollziehen sich Entscheidungen in oft langwierigen Prozessen bei definierten Mitwirkungsrechten der Bürgerschaft. Unter diesen Ausgangsbedingungen waren Hauptziele und Akzente für die weitere Stadtentwicklung zu formulieren, um ihre wirtschaftliche Zukunft zu sichern und eine hohe Lebensqualität für ihre Bürger zu schaffen. Als Oberbürgermeister beauftragte ich die neuen Verantwortlichen (heute Beigeordnete genannt), für ihren Fachbereich Ideen zu entwickeln, Prioritäten für eine kurz- und mittelfristige Erneuerung und Entwicklung unserer Stadt vorzuschlagen. Darüber hinaus arbeitete ich Vorschläge aus einem dreieinhalbseitigen Thesenpapier mit ein, das ich entsprechend einer Aufforderung der „Volksstimme“ im Vorfeld der letzten Kommunalwahlen in der DDR vom Mai 1989 unter der Überschrift: „Was uns heute gefällt und morgen besser sein kann“ verfasst und eingeschickt hatte. Leider bzw. erwartungsgemäß wurde es nicht veröffentlicht.
Magdeburg war, wie die meisten Kommunen in der DDR, durch Niedergang und Verfall gekennzeichnet. Sichtbare und unsichtbare Mängel in vielen Wohnquartieren und eine insgesamt erschöpfte Infrastruktur. Die über 1.000-jährige Geschichte der Stadt spielte im Bewusstsein ihrer Bürger nur eine geringe Rolle. Eine kaum wahrnehmbare Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt war die Folge. Dazu kam ein unzureichendes ehrenamtliches Engagement. All diese Fakten und die Zuarbeiten der Fachbereiche fanden Eingang in einem Arbeitspapier, dessen Inhalt ich am 12. Juli 1990 in einer „Magistratserklärung“ der Stadtverordnetenversammlung zur Beratung und Bestätigung vortrug.
Folgende Hauptziele wurden festgeschrieben:
1. Magdeburg als Arbeitsort sichern: Produktionsbetriebe im Ringen um ihre Existenzsicherung soweit wie möglich seitens der Kommune unterstützen
· Gewerbliche Neuansiedlungen und Handwerksunternehmen durch Grundstücksbereitstellungen fördern.
· Bildungseinrichtungen (Hochschulen, Berufsschulen, Gymnasien, Schulsanierungen und Schulneubauten) im Bestand sichern und entwickeln, vielfältige Schullandschaft vorhalten.
· Forschungseinrichtungen gründen (z. B. Innovations- und Gründerzentrum) und neue Forschungsinstitute ansiedeln.
· Alle städtischen Dienstleistungseinrichtungen als Grundvoraussetzung einer wettbewerbsfähigen Metropole sind neu zu strukturieren, umfassend zu sanieren und zu modernisieren, wie z. B. die Städtischen Werke, die Magdeburger Verkehrsbetriebe, die Hafengesellschaft, die Städtische Wohnungsbaugesellschaft, der Städtische Abfallwirtschaftsbetrieb, die Flugplatz Magdeburg Betriebsgesellschaft, die Messe- und Veranstaltungsgesellschaft und andere.
Im Ergebnis mussten alle Ver- und Entsorgungsaufgaben unter Beachtung von notwendigen Umweltstandards, (Wasser, Abwasser, Strom, Gas, Fernwärme, Müllentsorgung und Müllbeseitigung, Telekommunikation (Unterstützungsaufgaben durch die Stadt)) neu organisiert werden.
· Sanierung und Neubau von Brücken und Straßen, einschließlich des Radwegebaus, denn es gilt: „wenn die Wirtschaft florieren soll, müssen alle Wege der Wirtschaft top sein“.
· Ringen um die Mobilisierung eines Immobilienmarktes als Voraussetzung für Bauinvestitionen in der Stadt
· Kampf um die Funktion als Landeshauptstadt.
2. Magdeburg als Wohnort attraktiv gestalten:
a) Gesamtplanung zur Stadtentwicklung überarbeiten und den veränderten gesellschaftli-chen und eigentumsrechtlichen Verhältnissen anpassen
b) In Anbetracht der Anfang 1990 bestehenden Wohnungsnot ging es um Wohnungsneubau und Sanierung
· Klärung der Eigentumsverhältnisse mit Hausbesitzern (Wohnungsgenossenschaften, KWV-verwaltete Häuser u.a.)
· Wohnungsprivatisierungen
· Neustrukturierung der sozialen Infrastruktur, Sanierung und Neubau von Kitas, Krankenhäusern, Senioreneinrichtungen, Begegnungsstätten, u.a.
· Wohnumfeldgestaltung
· privaten Hausbau ermöglichen
· ökologische Defizite bezogen auf Böden, Wasser und Luft schrittweise überwinden
3. Magdeburg als Lebensort mit vielseitigen Angeboten durch die Bereiche Kultur, Sport, Freizeit und Erholung weiterentwickeln
a) Sicherung unseres Theaterensembles nach dem Theaterbrand vom 20. Mai 1990 durch Schaffung von Ersatzspielstätten und Einleitung von Wiederaufbaumaßnahmen
b) Schrittweise Sanierung aller weiteren Kulturstätten wie Theater, Museumseinrichtungen, Veranstaltungsorte
· Sportstättensanierung und Neubau Getec-Arena, Bäder, Golfplatz, Rennbahn, u.a.
· Sanierung und Neugestaltung von Parkanlagen und kommunalen Friedhöfen
· Beförderung des sich formierenden Vereinslebens
· Bestandssicherung der Kleingartenanlagen wo gewollt und möglich
· Wiederaufbau der Johanniskirche als Beitrag zur bewussten stadthistorischen Gebäudesicherung mit multivalenten Nutzungsmöglichkeiten.
Diese vorgenannten Schwerpunkte bildeten ein Arbeitsprogramm, zu dem im weiteren Verlauf der Anfangsjahre weitere recht unterschiedliche Herausforderungen dazu kamen. Nur zwei Beispiele:
a) So erwies sich der im Einigungsvertrag festgeschriebene Grundsatz, „Rückgabe vor Entschädigung“ im Hinblick auf vermögensrechtliche Ansprüche als ein enormes Investitionshindernis. Rund 25.000 Altansprüche auf Gebäude und Grundstücke wurden in der Stadtverwaltung in kurzer Zeit angemeldet. Die Antragsteller lebten verstreut auf der ganzen Welt, von Kanada bis Australien. In unserer kriegszerstörten Stadt Magdeburg und nach dem willkürlichen Umgang mit jüdischem Eigentum in der Nazizeit, dem Eigentumsverständnis in der DDR-Zeit mit willkürlichen Enteignungen sowie geschlossenen Grundbüchern bedeutete dies quasi eine Blockade für die gesamte Stadtentwicklung. Erst das im Juli 1992 aufgrund des Drängens der kommunalen Spitzenverbände durch den Bundestag beschlossene „Investitionsvorranggesetz“ eröffnete Handlungsoptionen für die Mobilisierung des Grundstückmarktes und damit für das Investitionsgeschehen in der Stadt.
b) Des Weiteren traute man den im Umbruch befindlichen Kommunen nicht die zuverlässige Versorgungssicherheit mit Energie auf Grund des hohen Verschleißgrades der Energieerzeugungs- und Verteilersysteme zu, sodass wir um eigene Stadtwerke gemeinsam mit anderen Städten dieses Recht durch Klage beim Bundesverfassungsgericht erstreiten mussten.
Die geneigten Leser, die die Herausforderungen der neunziger Jahre noch lebhaft erinnern, mögen unsere damals benannten Zielsetzungen mit der heutigen Wirklichkeit in unserer Stadt vergleichen und ihre persönliche Zwischenbilanz ziehen.