Gedanken- und Spaziergänge im Park: Vorsicht Türwächter!
Es ist etwa 50 Jahre her, dass ich den Prozess von Kafka gelesen hatte. In diesem Buch kommt eine Stelle vor, wo ein Priester der Hauptfigur K eine Legende erzählt. Damals fiel mir diese Legende nicht sehr auf, ich bezog sie vor allem auf religiöse und ethische Fragestellungen. Aber kürzlich stieß ich wieder darauf und sie bewegte mich sehr.
„Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne.
Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
Das ist ein schreckliches Ende. Und ich weiß nicht einmal, was mir an diesem Ende am schlimmsten erscheint: Die lange unselige Wartezeit oder die Mitteilung des Türstehers am Ende der Fabel. Dieser Satz: „Dieser Einlass war nur für Dich bestimmt!“, dieser Satz ist furchtbar. Denn er besagt nichts anderes, als dass K für sein Nicht-eingelassen-werden ausschließlich selbst verantwortlich war. Kein Gesetz, kein Türsteher, keine höhere Gewalt hat es ihm verboten.
Mir fällt mein eigenes Leben ein. Haben wir, habe ich, nicht meinen, unseren Türsteher ständig in uns? Was habe ich doch schon alles gewollt in meinem Leben und es doch nicht getan. Immer gab es Bedenken dagegen, immer gab es gute Gründe es zu verschieben, immer gab es Anlässe es zu lassen. Vor dem Mauerbau ließ man mich nicht zum Studium zu. Ich ging stattdessen „freiwillig“ zur sogenannten Volksarmee. Andere Klassenkameraden gingen in den Wes-ten. Die Angst, die Bedenken ohne meine Eltern nicht zurechtzukommen, hinderten mich an dieser Entscheidung. Völlig egal, ob sich das im Nachhinein als richtig oder falsch erwiesen hätte. Aber es geht auch eine Nummer kleiner.
Schon in meiner Oberschulzeit hatte ich mit dem Segelfliegen angefangen. Später wollte ich dann immer den Flugschein machen. In der DDR ging es nicht, wenn man nicht Militärpilot werden wollte. Doch nach dem Zusammenbruch der DDR wäre es möglich gewesen. Ich verschob es, weil ich im Beruf viel zu tun und Pläne hatte. Außerdem konnte man endlich in die Welt reisen. Ich sagte mir, später hast Du dann an den Wochenenden Zeit dafür. Es wurde weiter verschoben bis zum Ruhestand und dann gab es wieder andere Gründe, es weiter hinauszuschieben bis zu einem Zeitpunkt, wo es objektiv unsinnig gewesen wäre. Ein harmloses Beispiel. Ich könnte aus meinem Leben leicht noch andere Beispiele bringen, wie meine Bedenken mich von bestimmten Entscheidungen abgehalten haben. Diese Bedenken, die uns immer wieder „aus guten Gründen“ von manchen unserer Wünsche oder unserer Pläne abhalten, diese Bedenken – das sind die Türsteher. Mal treten diese Türsteher mit Gründen des Verstandes gegen unser gefühlsmäßiges Wollen und Wünschen auf, mal mit gefühlsmäßigen Bedenken gegen rationale Entscheidungen. Aber immer wecken diese Türsteher in uns Ängste, sie rühren an den offenen Ängsten und an den verborgenen. Sie erreichen, dass wir plötzlich Angst haben, durch eine neue Tür zu gehen, eine Weiche in unserem Leben zu stellen, einen gewohnten Trott abzubrechen. Und so, wie der Mann vom Lande dem Türsteher im Laufe der vielen Jahre alles Wertvolle in der Hoffnung auf Einlass gegeben hatte – auf wie viele Chancen und Wünsche habe ich verzichtet? Welche Talente in uns haben wir vielleicht ungenutzt dahinmodern lassen? Immer darauf wartend, dass ein anderer uns auffordern würde, davon Gebrauch zu machen, statt selbst das Risiko – auch des Scheiterns – einzugehen?
Im Laufe eines langen Lebens stehen wir oft vor solchen Pforten. Hin und wieder sind wir trotz des Türstehers hindurchgegangen und er hat uns nichts getan. Schaute vielleicht sogar lächelnd hinter uns her und dachte: „Endlich!“ Aber vor so mancher Pforte sind wir auch ausgewichen und vielleicht stehen wir vor dieser oder jener Tür immer noch. Oder warten darauf, dass ein anderer vielleicht den als gefahrvoll fantasierten Durchgang vor uns beschreiten möge. Möge sich jeder selber fragen, vor welcher Pforte er gerade steht oder vor welcher Tür er vielleicht seit Jahren zögert. Manchmal sind die Antworten schmerzhaft. Aber am schmerzlichsten wird es sein, wenn wir am Ende erkennen müssen, dass diese Tür nur für uns war und seit Langem schon offen gestanden hat. Diese Erkenntnis wünscht man keinem, denn sie bereitet Schmerzen und Trauer und vielleicht auch tiefe Reue. Paul F. Gaudi