Langsamer Leser: Vom Ende der Freiheit
Sie haben alle Recht. Der spanische Ministerpräsident, der spanische König, sämtliche Kommentatoren aller Zeitungen, zumindest der außerhalb Kataloniens. Das Land ist seit 1714 Teil Spaniens. Ein Austritt ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Man hat sich an die demokratischen Spielregeln zu halten. Ansonsten rennt man sehenden Auges in den wirtschaftlichen und politischen Untergang. Zumindest war die Wirtschaft schnell dabei, sich anderswo in Spanien schon mal künftige Hauptsitze zu sichern, dass die Katalanen sehen, wo Barthel seinen Most holt. Es ist ja richtig, in einer Demokratie kann noch lange nicht jeder machen, was er will.
Da hilft es auch nicht, dass die Eroberung Barcelonas im Jahre 1714 durch den Bourbonen Philipp im Spanischen Erbfolgekrieg, in welchem die Katalanen den „falschen“ möglichen Erben, den Habsburger Karl, unterstützt hatten, und die darauf folgende Eingliederung Katalaniens in Spanien kein urdemokratischer, sondern ein Akt der Gewalt war. Ähnliches lässt sich bei fast allen anderen Regionen, die in Europa nach Autonomie streben, ebenso ableiten: Der demokratisch verteidigte Status Quo beruht auf Ereignissen, die höchst undemokratisch zustande gekommen sind. Wie immer in solchen Fällen bleibt unter den Betroffenen die Sehnsucht nach eigener Verantwortlichkeit, der man nicht stattgeben darf. Warum eigentlich nicht?
In den neunziger Jahren feierte das Konzept des „Europa der Regionen“, angeregt durch das Minis-terium für Bundes- und Europafragen des Landes Sachsen-Anhalt unter der Regie des FDP-Ministers Dr. Hans-Jürgen Kaesler, fröhliche Urständ. Er plante damals den direkten kulturellen und wirtschaftlichen Austausch Sachsen-Anhalts mit ausgewählten Regionen Europas, dem Piemont in Italien, Leeds in England, Aragon in Spanien, Plovdiv in Bulgarien als Beispiel. Aragon beispielsweise war durchaus interessiert. Sie hätten ihre 13 lateinamerikanischen Niederlassungen, darunter Florida, für sachsen-anhaltische Projekte aufgemacht, wenn sie im Gegenzug die bulgarische Begegnungsstätte in Plovdiv mit hätten nutzen können. Das wäre mit Sicherheit auch wirtschaftlich interessant geworden. Eine El-Greco-Ausstellung sollte nach Sachsen-Anhalt kommen. Das Ganze war damals dem Wirtschaftsministerium ein Dorn im Auge (haben wir jetzt ein Außenwirtschaftsministerium?) Der geplante Putsch Kaeslers gegenüber dem damaligen MP Münch scheiterte, wie bekannt. In der Folge wurde das Ministerium aufgelöst und die bereits geknüpften Verbindungen versickerten lautlos und ergebnislos. Warum erzähle ich das? Weil das Konzept des „Europa der Regionen“ von der politischen Agenda verschwunden ist. Ursprünglich sollte es ja die Regionen der EU-Mitgliedsländer fördern und deren regionale Eigenständigkeit unterstützen. Mehr Bürgernähe war eine Triebfeder dieses Konzepts, direkte Partnerschaften. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse wies mit Recht darauf hin, dass die Region für die Menschen „mentalitätsprägend und identitätsstiftend“ ist. Nun sollte seinerzeit nicht die Region gegen den Nationalstaat ausgespielt werden, aber die Zusammenarbeit der Regionen sollte vom Subsidiaritätsprinzip geleitet werden. Die Katalanen haben im Laufe ihrer Geschichte seit 1714 immer wieder hinnehmen müssen, dass ihre Autonomie beschränkt wurde, zuletzt 2010 auf Antrag der Partei des heutigen Ministerpräsidenten. Das befördert den Unwillen, sich zusammengehörig zu fühlen.
Aber nehmen wir doch mal an, Europa wäre weniger ein Witz, den sich 28 Länder erzählen, um an die Geldtöpfe zu kommen, ohne der Mühsal frönen zu müssen, sich als Wertegemeinschaft vorzustellen, wäre also einer Vision gleich, dass es innerhalb der gleichberechtigten Staaten, aus denen es besteht, die Realität eines einheitlichen Wertegemeinschaftsraumes gibt. Aus welchem Grunde, wenn man nicht immer die Angst hätte, dass man ja eines Tages Europa auch aufkündigen könne und dann als Nationalstaat in den früheren Grenzen existieren können muss, also aus welchem Grunde, wenn man diesem Gedanken nicht anhängt, sondern aus dem der unumkehrbaren Einheit kommt, gäbe es denn den Zwang zur nationalstaatlichen Integrität? Also warum muss man soviel Zeit und Ideen verschwenden, dass bei einem Austritt Kataloniens die Folge nur sein kann, dass das neu entstandene Land außerhalb der EU existiere, weshalb ja die Wirtschaftsunternehmen sofort die Segel streichen und die Katalanen ihrem Schicksal überlassen wollen. Weshalb viele Katalanen ja auch keine Anhänger der Abspaltung des Landes sind.
Aber gesetzt dem Fall, das wäre alles weniger wichtig. Dann entstünde doch zwischen Spanien und Frankreich einfach ein weiteres EU-Land, völlig unspektakulär, die Grenzen sind offen, der Warenaustausch kann ungehindert fließen, ein Teil der erwirtschafteten Mittel fließt in eine EU-Regionen-Ausgleichskasse, die den Zweck hat, Regionen in Bildung und Unternehmensansiedlung zu fördern, die es nötig haben.
Das könnte dann auch Schottland sein, das Baskenland, Corsica und wer weiß noch. Darüber mag aber niemand nachdenken. Die Presse landauf, landab bügelt die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit als nicht verfassungsgemäß ab. Es gibt einen großen Einheitschor des Unwillens oder der Erhaltung des Status Quo: Das Stück, welches da aufgeführt wird, heißt: „Wehret den Anfängen oder: Die Dominotheorie“. Ja, und? Dass die Freiheit hier zu ihrem Ende kommt, liegt nicht daran, dass es keinen Willen mehr gibt, eine Vision Europa zu entwickeln, die weiter reicht als ein gemeinsames europäisches Heer, vor dessen Existenz mir eher graut, als dass ich mich dadurch sicherer fühle. Aber da wären wir auch schon wieder bei der Debatte zur Wertegemeinschaft. Wie will ich die mit den derzeitigen Regierungen in Polen und Ungarn realisieren? Da muss man auch über zeitweilige Suspendierungen sprechen. Will sagen, es wird nicht automatisch einfacher. Aber das ist halt mit der Freiheit so. Nichts macht sie einfacher, aber alles könnte sie interessanter machen: Verantwortung übernehmen, das ist das Glaubensbekenntnis des Bürgers, der sich auch als solcher versteht.
Auch, wenn alle Recht haben, wie eingangs gesagt: Es wäre trotzdem weise, wenn ein jeder, statt auf dem Recht zu beharren, mit dem anderen den Traum von der Freiheit mitträumen könnte. Dann kommt man über das Erzählen wieder ins Reden.