Viel mehr als ein langsamer Leser …
„Ein Psalm Davids, zum Weihrauchopfer (?)
Ich aber bin wie ein Tauber, höre nicht, und wie ein Stummer, der den Mund nicht öffnet. Als mir die Krankheit offenbart wurde, mir, dem die Freiheit im Schädel wohnt, blieb mir nichts als Staunen, mit welcher Raffinesse sie mir ausgesucht ward, …“
Der langsamer Leser liest nicht mehr. Aber er spricht noch, auch wenn er uns nun verlassen hat. Ludwig Schumann schrieb in dieser Zeitung fast vier Jahre lang in jeder Ausgabe die Kolumne auf der Seite 6 und viele andere Beiträge. Er war für zahlreiche Leserinnen und Leser eine Schreib-Institution mit einer Stimme, die Worte sagt, die andere nicht sagen können oder manche nicht hören wollen. Seine Worte reichten weit über den Raum Magdeburg hinaus und wurden vielerorts gehört. Mit Friedrich Schorlemmer, Konstantin Wecker oder Galsan Tschinag führte er Konversation und in MAGDEBURG KOMPAKT erschienen seine Gespräche. Der Verlust schmerzt umso mehr, weil seine Gedanken eine tragende Säule im Diskurs bildeten und seine Argumente manches hinrückte und anderes umstürzte. Einige mögen sich unter seiner Fähigkeit, sprachlich zuzuspitzen, verletzt gefühlt haben. Doch er hat insgeheim geschmunzelt, weil er um deren Aufregung wusste.
1951 kommt Ludwig Schumann in Erfurt in die Welt und wächst im Umfeld der Gaststätte „Zum alten Nordhäuser Bahnhof“ auf. Im Interhotel „Erfurter Hof“ absolviert er eine Kochlehre mit Abitur bei Küchenmeister Lothar Henke. Schließlich studiert er Theologie in Berlin, Naumburg und Erfurt. Der Neutestamentler Dr. Hans-Jochen Genthe ist ihm ein wichtiger Lehrer. Später, von 1976 bis 1989 ist Schumann Landpfarrer in Groß Rodensleben. Bereits 1987 erhält er den Hauptpreis im Lenné-Wettbewerb für den Text „Der Mensch in seiner Landschaft“. Seiner Kirche hat er den Rücken gekehrt, aber nicht seinem Gott. Als die Kirchenverwaltung einer engagierten alten Dame die Aufgaben entzieht, ist das Anlass für ihn, vor einer institutionalisierten Scheinbarmherzigkeit das Weite zu suchen. Genauso entschlossen stand er dem staatlichen und ideologischen Diktat in der DDR ablehnend gegenüber.
Sein Leben galt fortan dem Schreiben. 13 Jahre lang arbeitete er mit dem Fotografen Hans-Wulf Kunze und dem Illustrator Thomas Binder in der Werbeagentur TOgDÀ Communications zusammen. Seine Plakatidee mit Unfallärzten auf der A2 mit dem Slogan „Rasen Sie ruhig. Wir kümmern uns um den Rest!“ war im Blick von Millionen Autofahreraugen. Seit 2004 lebte er als freischaffender Autor und Herausgeber zahlreicher Schriften.
Wer Ludwig Schumann nahe gekommen war, mit denen führte er unerbittlich respektvolle Dialoge. Im Arbeits- und im Wohnzimmer türmten sich Bücherstapel, standen zum Bersten überfüllte Regale festgehaltener Gedanken und gespeicherter Musik. Zeppernick bei Möckern – das war sein Refugium mit der Aura von Räumen, die ein Spiegel seines weiten Geistes und ein Zeugnis für das Öffnen desselbigen vermitteln konnten. Die Bücher und Booklets, die Ludwig Schumann allein oder in Zusammenarbeit mit anderen geboren hat, sind ein weites literarisches Feld. Da gibt es das fröhliche Kinderbuch mit Heike Prell „Plötzlich fiel meine Nachbarin vom Stuhl“ (2009, Harry Ziethen Verlag) oder den erotischen Geschichtenkranz „Den ganzen Tag Frosch“. In „Verletzte Landschaft“ führt er Interviews beiderseits der ehemaligen Zonengrenze. Für „Gartenträume – Zwischen Harz, Elbe und Saale“ erhält er 2008 den 3. Preis des Deutschen Gartenbuchpreises. Mit „Der Dreizeitenpsalm“ veröffentlicht Ludwig Schumann eine Reihe politischer Gedichte. Doch so zweifelsfrei eindeutig er sich gegen Unrecht und Ungerechtes wendete, so einfühlsam zerrissen konnte er Liebesgedichte in den Band „WASSERHAUTSEELE“ schreiben.
Am 22. November 2015 brachte der Chor der Biederitzer Kantorei mit Prof. Günter „Baby“ Sommer am Schlagwerk und Jens Naumilkat am Cello das Oratorium „Himmelsleiter“ zur Uraufführung. Als Librettist setzt sich Schumann für dieses Oratorium mit der Frage auseinander, wie das vergangene Jahrhundert aus der Sicht eines Beteiligten, sozusagen an dessen Seele, vorbeigezogen ist. Es ist die Erzählung eines „Jahrhundertlebens“ mit den Wurzeln im Kaiserreich Wilhelms II. Solche großen Bögen konnte der Autor ziehen und in allem Verbindungen herstellen. Insbesondere das Band zur Musik war Ludwig Schumann eine willkommene Fessel, in der er frei sein konnte. Mit dem Gitarristen Uwe Kropinski, dem vielleicht aufregendsten Innovateur im Bereich moderner, improvisierter, stilübergreifender, akustischer Gitarrenmusik arbeitete er gern zusammen. Kropinski fand in seiner musikalischen Vielfalt und innerhalb seines Könnens selten Musikerkollegen, mit denen ein tonaler Dialog möglich war. Ludwig Schumanns Worte waren jedoch für ihn Musik, mit der er seine Interpretationen harmonisierte.
Im Streit Harmonie finden, einen Gegenpol sehen können oder einer Tiefe die Höhe gegenüberzustellen – darin wandelte ein Ludwig Schumann. Menschen, die sich manchmal gegen ihn als den Streitbaren und scheinbar Unbelehrbaren gestellt hatten, fanden längst sein Verzeihen. Er hätte ihnen zu jederzeit die Hand gereicht, wenn sie diese doch nur gesucht hätten. Ludwig Schumann hatte in all seinem Schaffen in unzählbare Seelen geschaut und wie kaum ein anderer mit einer seltenen, eigenen Erfahrungwelt auf Lebenswege geblickt. Ob Opfer oder Täter, Menschen mit Rissen und mit angeheftetem Makel – sich solchen Personen zu nähern, war ihm wie eine Lebensaufgabe. In der Justizvollzugsanstalt Burg leitete er gemeinsam mit der Gefängnisseelsorgerin Jana Bittner die „TalentLos!Schreibwerkstatt“. Seinen Strafgefangenen war er nicht nur ein literarischer Vater, der ihnen aufgab, mit Worten aus sich herauszutreten. Gleichsam brachte er sie mit ihren Arbeiten in die Öffentlichkeit. 2017 erschien das Buch „Der heilige Stolperer“, das mit einer Lesung der JVA-Insassen im Magdeburger Kloster Unser Lieben Frauen vorgestellt wurde. Solche Herausforderungen nahm Ludwig Schumann völlig uneigennützig an. Ein Gegenwert waren ihm stets die Menschen, mit denen er sich verbinden wollte. In solchen Momenten zeigten seine Augen immer ein Leuchten und lag auf seinem Gesicht ein Ausdruck von Freude.
Sein Glück erlebte man auch, wenn er über seine Katzen und Hunde im Pfarrhaus an der Zeppernikker Dorfkirche sprach oder über die Kräuter im Garten und das Kochen für Freunde. Ludwig Schumann lebte nicht auf dem Land, weil er zurückgezogen leben wollte, sondern weil er Leben in die Zurückgezogenheit brachte. Mit zahlreichen initiierten und organisierten Kulturveranstaltungen setzte er Impulse fürs Zusammentreffen, für ein Beatmen scheinbar stillgelegter Orte. Über Kontakte verfügte er, um andere Künstler dafür anzustacheln, Verwaltungen oder Referate in Ministerien aufzurütteln und für andere wirksam werden zu lassen. Man möchte fragen, wie er das alles geschafft hat. Es wird sein Geheimnis bleiben, ein Schumann-Streich außergewöhnlicher Art. Und immer wieder nachts trieb es ihn an seine Arbeitsmaschine, an den Computer, um einen neuen „Langsamen Leser“ aufzuschreiben. Als Ludwig Schumann im März von seinem Körper zunächst ausgebremst wurde und sich in die Hände der Ärzte begab, war er voller Hoffnung und angefüllt mit Schreib-Ideen. „Wenn ich nicht mehr arbeiten kann, hat das Leben seinen Sinn für mich verloren“, sagte er bei einem meiner Krankenhausbesuche. Sogar nach einem Schlaganfall hatte er sich sofort aufs Schreiben gestürzt, um die kurzzeitig verlorene Fähigkeit zurückzuholen. Seine Kolumne „Ich bin ein langsamer Leser …“ sollte im Herbst als Buch erscheinen, quasi als Zwischenstand aus seiner Werkstatt. Nun wird es leider ein vollendetes Werk. Am 22. Mai verabschiedete er das Leben, Lesen und Schreiben für immer. Hoffnung – das war sein Geschenk für jeden. Ludwig Schumann ist ein Geschenk für Menschen, die ihm begegnet sind. Seine Worte bleiben und seine vermittelte Hoffnung ebenso, so schmerzlich Verlust und Abschied von ihm als Lebenden sein mögen. Aber „Der langsame Leser“ an dieser Stelle wird fehlen. Thomas Wischnewski
„… Als es mir wehe tat im Herzen und mich stach in meinen Nieren, da war ich ein Narr und wusste nichts, ich war wie ein Tier vor dir. Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allzeit meines Herzens Trost und mein Teil.“ Ludwig Schumann
(Zuletzt aber bleibe ich – ein Wort nach Psalm 38)
Die Beisetzung findet am 29. Mai 2019, um 14 Uhr auf dem Friedhof in Druxberge statt.