Toooor! Fußball – die reine Freude?
Tooooor!“, schrie das eine Ich in mir laut, als der Freistoß in der letzten Minute des Spieles gegen Schweden am Abend des 23. Juni zum 2:1 im schwedischen Tor landete und alle Zweifel am Ausgang des Spieles damit ein Ende hatten. Im anderen Ich saß die vorher erwartungsvolle und nun enttäuschte Schadenfreude (das ist die lachende Schwester der verbitterten Missgunst), die mit einem Unentschieden oder sogar einer Niederlage gerechnet, wenn nicht sogar darauf gehofft hatte.
Ja, es ist wahr – so zwiespältig waren meine Gedanken vor dem Spiel gegen Schweden. Das kommt ja nicht von ungefähr. Da waren die schwachen und enttäuschenden Spiele in der Vorbereitungsphase gegen Saudi-Arabien und Österreich und das kläglich verlorene Spiel gegen Mexiko. Und dann war da noch die Propaganda für den türkischen Präsidenten durch Özil und Gündogan durch ein Foto mit Erdogan und der Übergabe eines Spielerhemdes mit der Aufschrift „für meinen Präsidenten“. Das führte auch dazu, dass die Spieler bei den Vorbereitungsspielen vom Publikum ausgepfiffen wurden. Diese Pfiffe erfuhren die Missbilligung der meisten Journalisten und natürlich von Claudia Roth. Aber warum eigentlich?
Seit dem missglückten Putsch gegen Erdogan in der Türkei und der zunehmenden Einschränkung bürgerlicher Freiheiten und der Verfolgung Andersdenkender durch ihn gab es kaum einen Tag, an dem nicht kritische und oft sehr negative Kommentare und Bemerkungen zu ihm und den Zuständen in der Türkei erfolgten – und das sicher nicht zu Unrecht! Selbst Jan Böhmermann meinte sich bei diesen Aktionen mit einem pubertär-zotigem und beleidigendem „Gedicht“ beteiligen zu müssen. Diese Kommentare sahen, hörten und lasen die Menschen oft genug. Anscheinend übernahmen und teilten sie die Meinungen zu Erdogan und seiner Politik und pfiffen die Spieler, die sich bei „ihrem“ Präsidenten (gegen gutes Honorar?) anbiederten, gnadenlos aus. Die Pfeifer folgten damit eigentlich nur der Verurteilung durch die Medien. Und nun wurden sie dafür getadelt! Nicht ganz verständlich.
Aber sonst scheint unsere Mannschaft eher unauffällig zu sein. Während alle anderen Mannschaften oft sehr farbenfreudig spielen, erscheint das deutsche Trikot in Weiß und verschiedenen Grautönen recht unlebendig. Auf dem Mannschaftsfoto von der Vorbereitungszeit (nicht auf dem Spielfeld) in Südtirol hat das Trikot auch verschiedene Logos, sodass man nicht recht weiß, ob diese Mannschaft für Deutschland oder für Mercedes spielt! Dazu kommt noch die Bezeichnung, die sie sich gegeben oder übernommen hat: „die Mannschaft“. Wenn man hört und liest wie andere Nationen ihre Mannschaften bezeichnen, zum Beispiel „die Weiß-Blauen“ in Argentinien oder „drei Löwen“ in England oder „Weißer Adler“ (Polen), dann klingt „die Mannschaft“ entweder völlig einfallslos oder aber grenzenlos überheblich, wenn man nämlich die Betonung auf „die“ legt – „DIE Mannschaft“ – als gäbe es keine andere bzw. keine weiter nennenswerte. Nun ja, ob es DIE Mannschaft sein wird, die am Ende triumphiert, werden wir ja sehen. Ich glaube es eher nicht.
Was mich aber immer wieder fasziniert, sind die Blöcke der Fans. Diese Fantasie in der Kostümierung und vor allem aber die lautstarke Begeisterung über ihre Mannschaften. Ein ähnliches Bild zeigen auch die Aufnahmen der begeisterten Zuschauer beim „public viewing“. Eine kurze Zwischenbemerkung sei an dieser Stelle erlaubt: unter public viewing verstand man im früheren England die öffentliche Aufbahrung eines verstorbenen Herrschers, damit das Volk ihn noch einmal sehen und Abschied nehmen konnte. Also etwas ganz anderes. Ein heutiges „public viewing“ in diesem Sinne gibt es ja zum Beispiel in Moskau im Mausoleum auf dem Roten Platz, wo man den ausgestopften Lenin im Schneewittchensarg betrachten kann.
Aber zurück zum Fußball und seinen Fans: Manchmal kommen mir da Gedanken, die vielleicht unpassend erscheinen. Aber irgendwie fällt mir immer wieder die berichtete überschäumende Begeisterung der jungen Männer ein, als diese 1914 in den Ersten Weltkrieg zogen. Vielleicht ist das ungerecht, wenn ich diese Assoziationen habe. Aber immer wieder gibt es auch Berichte, wonach diese farbenfrohe und sangesfreudige Begeisterung nach dem Spiel in den Straßen in aggressive Handlungen umschlägt und nur die Polizei Schlimmeres verhüten kann. Da ist dann wieder so eine Art Krieg, nicht selten mit Verletzten. Ist Fußball im Speziellen oder der Sport im Allgemeinen doch so eine Art „Kriegsersatz“? Wenn das so wäre und dadurch tatsächliche Kriege verhindert werden könnten, dann wäre es sehr zu begrüßen. Aber die Wirklichkeit spricht gegen diese Annahme.
Eher sind diese Sportereignisse vor allem ein riesiges Geschäft, aber andererseits auch ein Mittel, die Bevölkerung von anderen Problemen abzulenken, die ihr eigentlich auf den Nägeln brennen müssten, so wie „Brot und Spiele“ im alten Rom auch der Befriedigung und Befriedung des einfachen Volkes dienten. Zumal die Sportler, die da auf dem Rasen gegeneinander anrennen, oft mit ihren Nationen kaum noch etwas zu tun haben. Diese Sportler spielen überall in der Welt, bei manchen Mannschaften sogar die wenigsten in ihrem Heimatland. Viele Spieler, die da auf dem Rasen bei der Weltmeisterschaft gegeneinander antreten, spielen in einem anderen Land und sogar manchmal im gleichen Verein miteinander. Das ist schon eigentümlich.
Ich würde eine Nationalmannschaft nur aus den Sportlern zusammenstellen, die erstens Bürger der Nation sind, für die sie antreten und die zweitens ausschließlich bei einem Verein ihres Heimatlandes spielen. Aber das sind Illusionen. Wie die ganze FIFA sind auch die Spieler und ihre Manager Geschäftsleute und wollen möglichst viel verdienen. Die meis-ten, die da auf dem Rasen gegeneinander spielen, sind vielfache Millionäre, von deren Lebensstandard diejenigen, die sie beklatschen nur träumen können oder es sich sogar nicht einmal im Traume vorstellen können.
Es ist wirklich nicht ganz zu fassen: Da regen sich hin und wieder die Presse oder auch Gewerkschaftler über Managergehälter auf, die viel zu hoch seien und in keinem Verhältnis zu dem Einkommen der sonstigen Arbeitnehmer ständen. Das mag durchaus richtig sein und es gibt sicherlich auch eine Anzahl von Managern, die beträchtlich überbezahlt werden. Aber es gibt doch einen großen Unterschied: der teure Manager trägt die große Verantwortung für tausende oder zehntausende von Arbeitsplätzen mit, an denen eine noch größere Zahl von Familienangehörigen hängen. Der millionenverdienende Fußballspieler aber hat eigentlich nichts weiter zu tun als ein Stück Leder in ein Netz zu treiben oder zu verhindern, dass der Ball ins eigene Netz gelangt. Da beklagt sich niemand in der Öffentlichkeit über das hohe Einkommen des Fußballspielers. Ganz im Gegensatz zu dem Urteil über die Manager. Ich finde jedenfalls, dass es einen beträchtlichen Unterschied macht, ob ich für das Wohl und Wehe von tausenden von Mitarbeitern und ihren Familien mitverantwortlich bin oder ob ich nur einen Ball über den grünen Rasen bewegen muss.
Ein ähnliches Missverhältnis zwischen Verantwortung und Einkommen haben wir auch in der sons-tigen Unterhaltungskunst, wobei ich besonders das Showgeschäft meine. Ein Skandalrapper kann mit seiner sexistischen, brutalen und menschenverachtenden „Kunst“ ein Vielfaches, ja das Tausendfache von dem verdienen, was unsere Mitmenschen durch ihrer fleißigen Hände Arbeit je erreichen könnten. Unterhaltung zahlt sich für einige wenige deutlich besser aus. Aber vielleicht ist Unterhaltung eben nur eine Unter-Haltung und weniger eine Haltung. Paul F. Gaudi