Standpunkt Breiter Weg: Abgehängte Ossis!

So isser, der Ossi“ – diese Zeile druckte der Spiegel auf die Titelseite vom 24. August. Der Osten ist derzeit wieder in aller Munde. Die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen stehen vor der Haustür (1. September). Am 27. Oktober folgt Thüringen. Die Ossis sind Abweichler, weil in den ostdeutschen Bundesländern gewohnte Mehrheiten aus traditionellen Parteien zerfallen. So rufen es vielfach Kommentatoren eines westdeutschen Stabilitätsverständnisses. Und weil Ostdeutsche sich politisch Vertrautem verweigern, macht man sie per Zahlenanalyse und Statistikgrafiken zu einer Spezies der Abgehängten. Es ist der Erfolg der AfD in den fünf Ländern, der Politikern, Medienleuten und Gesellschaftswissenschaftlern Kopfschmerzen bereitet. In Brandenburg und Sachsen könnte die rechte Partei zur stärksten Kraft im Land werden. Bei der Europawahl war sie das bereits in vielen ländlichen Regionen.

Das Problem sind also die vielen Menschen im Osten, weil sie sich abgehängt fühlen. Denkt eigentlich jemand der Ossi-Analysten darüber nach, dass schon die Begriffsbesetzung problematisch ist? Warum findet innerhalb einer intellektuellen Betrachtung keine Selbstreflexion statt, unter der die eigene Beobachterposition untersucht wird? So ungerecht es ist, Migranten – aus welcher Weltregion auch immer – mit einem Stigma zu versehen, so fehl am Platze ist die Subsumtion von Ostdeutschen unter die Vorstellung von Abgehängten. Hängen wir nicht alle vom Leben ab? Dass der Osten zwei tiefe wirtschaftliche und politische Brüche absolvierte – den in der Folge des 2. Weltkriegs und den durch die gewünschte deutsche Einheit – erzeugte ganz natürlich andere Bedingungen als solche unter einer gewissen gesellschaftlichen Kontinuität.

Es ist egal, ob die Infrastruktur in Fünf-anders-Land neu, saniert und modern ist, 30 Jahre nach dem Mauerfall haben Menschen im Osten einen Wandel durchgemacht, der alles auflöste, was einst vertraut war. Ähnlich erleben das strukturschwache Regionen im Westen. Nur dass diese dann oft nicht so herausgeputzt aussehen wie ostdeutsche Städte und Gemeinden. Es gibt unter Ostdeutschen sicher ganz viele, die Westdeutsche in jenen Gebieten mit ihren Wahrnehmungen besser verstehen, als das intellektuelle Interpreten leisten könnten.

So lange solche Entwicklungen in Ost und West nicht gemeinsam betrachtet und angegangen werden, so lange hüben nach drüben analysiert wird, pflegen wir gegenseitig eine geistige Mauer. Und das zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. In 50 bis 60 Jahren sind die Wurzeln, die sich mit einer DDR-Sozialisation verbanden, ausgestorben. Ausgerissen sind sie deshalb nicht, weil die Hege und Pflege der Sichtweisen und Unterstellungen fortgeschrieben wird und sich in jüngere Generationen einpflanzt. Wer zum Abgehängten stilisiert wird, fühlt sich auch so. Wer ständig auf seine Defizite hingewiesen wird, muss sich minderweitig empfinden. Pädagogik und Psychologie empfehlen, die Vermittlung solcher Bedingungen grundsätzlich zu vermeiden. In Politik und Medien ignoriert man diesen Grundsatz und wundert sich über die Ignoranz im Osten. Es ist eben nicht nur der Osten, der sich selbst anders macht. Er zeigt eben auch das Phänomen einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Leider wird das vom Westen hervorragend gehegt. Thomas Wischnewski

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