StadtMensch: Mauermärchen

Es gibt ja immer mehrere Möglichkeiten, eine Beziehung zu beschreiben. Dabei kommt es vor allem auf die eigene Intention an, denn diese entscheidet letztendlich darüber, wie sich das Verhältnis nach außen präsentiert. Manche hassen Harmonie, andere müssen alles in schmalzige Happy-Ends verwandeln und den Dritten geht es ausschließlich darum, dass sie ihre eigenen Pläne auch an den Beteiligten vorbei realisieren können. Alle drei haben gemeinsam, dass es ihnen ganz sicher nicht um die Wahrheit geht, sondern darum, ihren Blick durchzusetzen, also die alleinige Deutungshoheit zu gewinnen. Was aber, wenn es nicht mehr um das Gewinnen geht? Dann würde die postfaktische Gesellschaft schneller am Ende sein, als sie es erwartet hat und die Erzählperspektive sich in eine Richtung verschieben, die einer gemeinsamen Realität näher kommt.

Wenn wir Mauerfall und Wiedervereinigung als Märchen lesen würden, dann könnte es vielleicht so klingen: Dann fiel die Mauer und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch glücklich und zufrieden in den blühenden Landschaften, die ihnen versprochen worden waren. Märchen enden so. Prinzen und Prinzessin-nen,  Bauernburschen und Schweinemägde, Froschkönige und gestiefelte Kater kriegen sich am Ende immer. Bis auf das eigensinnige Kind, denn das lassen die grimmigen Brüder am Ende sterben, eben weil es diesen Eigensinn entwickelt. Und so ist diese sogenannte Wiedervereinigung, bei der es sich eher um eine Neuvereinigung handelt, ein Märchen geworden, das nicht so einfach endet. Denn da hatten sich zwei eigensinnige Kinder gefunden und konnten nicht zueinander kommen, weil das Wasser viel zu tief oder die Mauer zu hoch war. Und statt aufzugeben, ging das eine auf die Straße und ließ die zu hohe Mauer zerkrümeln und das zu tiefe Wasser einfach ablaufen. Da standen die beiden endlich voreinander und sollten Hochzeit halten. Mit all den Hindernissen hatte das doch immer so gut ausgesehen und nun auf einmal sollte es ganz schnell gehen und ganz ohne Hindernisse. Dabei kannte sich dieses Brautpaar doch nur aus dem Fernsehen oder von gelegentlichen, kurzen Besuchen. Eigentlich wussten sie nur das voneinander, was der jeweils andere sie wissen ließ. Das war, ehrlich gesagt, viel zu wenig, als dass man jetzt sofort problemlos heiraten konnte. Es sah eher nach einer Zwangsheirat aus, die vierzig Jahre zuvor halbherzig beschlossen worden war und nun vollzogen werden sollte. Und eigentlich waren alle anderen schon damals dagegen gewesen. Sie heirateten trotzdem und wunderten sich, dass es gar nicht so gut funktionierte, hatten sie sich doch ewige Treuhand geschworen und jedem, der es nicht wissen wollte, erzählt, wie gut sie harmonieren würden. Aber die Unterschiede waren viel größer und man blieb ohne Liebe eigentlich nur wegen der gemeinsamen Kinder zusammen, die allmählich groß wurden und ihre Eltern immer weniger verstanden. Denn beide blieben so unflexibel wie sie schon immer gewesen waren und nur am Hochzeitstag spielten sie aller Welt die harmonische Gemeinschaft vor.

In dieser Lesart kann zwangsläufig nichts funktionieren. Merkwürdig, dass man mit der Wiedervereinigung gerne eine Ehe assoziiert, die mittlerweile schon seit 30, oder genauer 29 Jahren mehr oder weniger gut funktioniert. Warum wird es so selten als das bezeichnet, was es eigentlich ist, eine Wohngemeinschaft, in der eine Mietpartei schon 40 Jahre lebte und die andere, obwohl gleichaltrig, vor 30 Jahren einzog. Sie hatte vorher in ganz anderen Verhältnissen gewohnt, mit denen sie sich irgendwann nicht mehr arrangieren wollte und darum beschlossen hatte, etwas Neues auszuprobieren. Es dauerte ein wenig, weil man doch recht unterschiedlich sozialisiert worden war, aber immerhin sprach man die gleiche Sprache. So raufte man sich zusammen und aus der Zweck-WG wurde eine enge Gemeinschaft, die man den beiden in der kurzen Zeit gar nicht zugetraut hätte. Natürlich hakte es im Alltag immer mal wieder und der Neuzuzug fühlte sich, nicht zu Unrecht, manchmal ein wenig bevormundet. Schließlich hat-te er doch auch Erfahrungen vorzuweisen, andere gewiss, aber sie waren nicht weniger wert und hatten auch eine Alltagstauglichkeit bewiesen. Außerdem war es jetzt eine gemeinsame Wohnung und da sollte auch gemeinsam bestimmt werden. Immer wieder musste neu verhandelt und nachjustiert werden, aber je länger es dauerte, desto reibungsloser funktionierte das Miteinander.

Welche der beiden Sichtweisen ist nun die richtige? Für beide gibt es Indizien, aber tatsächlich ist nur der eigene Blick entscheidend. In dem Roman „Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein“ von Arkadi und Boris Strugazki geht es genau darum. Ein menschlicher Beobachter überschreitet seine Kompetenzen und greift auf einem fernen Planeten, dessen (sehr menschenähnliche) Bewohner in einer Art Mittelalter leben, in die Geschichte ein. Es gelingt ihm nicht, die Umstände zu verbessern, er scheitert und verliert alles. Seine subjektive und scheinbar überlegene Sicht nutzte nichts, weil die objektiven Gegebenheiten anders waren. Unser Vorteil ist, egal ob wir die Realität richtig oder falsch beurteilen, dass wir keine Beobachter, sondern Akteure sind. Das bedeutet, dass wir sogar eingreifen müssen, um unsere Lesart zu retten. Und da gilt es, raus aus der Jammerkammer und aktiv werden, ohne andere körperlich oder verbal zu verletzen, sondern miteinander zu handeln. Schließlich wurde schon mal eine unüberwindbar scheinende Grenze in sehr kurzer Zeit beseitigt. Und das schaffen wir vereint wieder, also doch wiedervereint. Auf die nächsten dreißig Jahre stetige Veränderungen. Lars Johansen

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