Römers Reich: Skepsis contra Überzeugung
Überzeugungen sind heute enorm wichtig. Ohne Überzeugung kommt man nicht durchs Leben, jedenfalls nicht durchs richtige. Und auf die richtige Gewissheit kommt es an, weil man sonst im falschen Leben – wie wir wissen – gefangen bleibt. Skeptizismus war eine philosophische Denkrichtung, die menschliches Wissen grundsätzlich infrage stellte. Mir scheint, wir wandern heute durch die Zeit eines modernen Dogmatismus. Als dogmatisch wurden von Skeptikern beispielsweise solche identifiziert und definiert, die von „ewigen Wahrheiten“ ausgehen. Offenbar bedingen sich Dogma und Skepsis bzw. sie sind nur zwei Seiten einer Medaille. Wie auch immer, die Dogmen allseits Überzeugter – solchen von sich selbst, von dem richtigen Standpunkt, von der Lösbarkeit aller Probleme oder zu wissen, Träger von Wahrheit zu sein – haben Hochkonjunktur.
Ich denke, wir brauchen wieder etwas mehr gesunden Skeptizismus. Fragen Sie mich jetzt bitte nicht, was gesunde und was kranke Zweifel wären. Aber an diesem millionenfachen Aufstampfen der Überzeugten – wobei damit eher ein Herumhacken auf Tastaturen gemeint ist – sollte doch manches Bedenken angemeldet werden. Man bekommt den Eindruck, vor allem wenn man die Kommentarspalten in Online-Kanälen verfolgt, dass häufig nur Überschriften gelesen werden. Beitrag und Autor werden in der überzeugten Gegenrede der Kommentatoren diffamiert und vielleicht noch politisch abgestempelt. Zwischen den Überzeugungstätern findet sich dann doch manche Differenzierung und sachliche Kritik. Ob Standpunkt-Wächter dies noch sehen, kann bezweifelt werden.
Ich habe da ein schönes Beispiel für Skepsis an der eigenen Überzeugung entdeckt: Seit Jahrzehnten wird auf das Anwachsen der Weltbevölkerung hingewiesen. Und die tätsächliche Entwicklung beweist frühere Prognosen. Doch die Briten Darrel Bricker und John Ibbitson legen in ihrem Buch „Empty Planet. The Shock of Global Population Decline“ (2019) neue Prognosen vor. So würde in China die Geburtenrate nur noch mit 1,05 angegeben. Das ließe vermuten, dass deren Einwohnerzahl bis Ende des Jahrhunderts um 560 bis 600 Millionen abnehmen würde. Auch in Afrika sind Änderungen sichtbar. Während in kleinen Staaten wie Niger oder Benin die Rate noch bei 8 Prozent liege, hätte sie sich in Kenia mit Großstädten wie Nairobi und Mombasa mittlerweile auf 4 Prozent halbiert. Wie es um Europa bestellt ist, wissen wir ja. Vor dem Buch hätte ich überzeugt das ewige Wachstum angeprangert. Jetzt habe ich Zweifel. Gott sei Dank – und an Gott zweifelt man ohnehin gern. Ein wenig mehr Skeptizismus hilft gegen viele Untergangserzählungen. Aber überzeugen Sie mal einen wirklich Überzeugten – egal, in welcher Sache. Ob das funktioniert? Ich bin da skeptisch und überzeugt, dass dies ein hilfloses Unterfangen ist. Axel Römer